Der Windsänger
Zeichen, die wie eine fremde Schrift aussahen.
Kestrel schaute verwirrt auf.
»Glotz mich nicht so an, Mädchen«, sagte der Kaiser. »Wenn du etwas nicht verstehst, frag einfach.«
»Ich verstehe gar nichts.«
»Unsinn! Es ist alles ganz einfach. Pass auf – hier sind wir.« Er zeigte auf die Zeichnung von Aramanth. »Und hier entlang musst du gehen. Siehst du?« Er fuhr mit dem Finger über die gestrichelte Linie nördlich von Aramanth. »Du musst unbedingt der Straße folgen, sonst verpasst du die Brücke. Das ist der einzige Weg, verstehst du?«
Er zeigte auf eine Zickzacklinie, die quer über die Karte verlief. Kritzelige Zeichen standen daneben, doch ebenso wie mit allem anderen, was hier geschrieben stand, konnte Kestrel damit nichts anfangen.
»Aber warum soll ich das alles tun?«
»Bei den Bärten meiner Ahnen!«, rief der Kaiser aus. »Hat man mir ein Kleinkind ohne Verstand geschickt? Um die Stimme zurückzuholen! Damit der Windsänger wieder singt!«
»Die Stimme des Windsängers!« Ein Schauder durchrieselte Kestrel. Es ist wahr, dachte sie. Es ist wahr.
Der Kaiser drehte die Karte um. Auf der Rückseite stand noch mehr in dieser fremdartigen Schrift geschrieben, neben der verblassten Zeichnung eines Symbols, das Kestrel wiedererkannte: den eingekratzten Buchstaben S mit dem geschwungenen Ende, den sie im Hals des Windsängers gesehen hatte.
»Das ist sie.«
Kestrel betrachtete verwirrt die Zeichnung und war zugleich von Aufregung und Angst durchdrungen. »Was passiert, wenn der Windsänger wieder singt?«
»Wir werden vom Morah befreit sein, ist doch klar.«
»Vom Morah befreit?«
»Vom – Morah – befreit«, wiederholte er laut und langsam.
»Aber der Morah ist bloß eine Geschichte.«
»Bloß eine Geschichte! Bei den Bärten meiner Ahnen! Bloß eine Geschichte! Die Stadt ist schlimmer als ein Gefängnis, die Menschen schlagen sich voller Neid und Hass durchs Leben und du sagst, es ist bloß eine Geschichte! Der Morah beherrscht Aramanth, mein Kind! Das weiß doch jeder.«
»Nein«, widersprach Kestrel. »Niemand weiß es. Alle halten den Morah für ein Märchen aus alter Zeit.«
»Wirklich?« Der Kaiser blickte sie misstrauisch an. »Na, das beweist doch nur, wie schlau der Morah ist, nicht?«
»Ja, schon möglich«, erwiderte Kestrel.
»Glaubst du mir denn jetzt?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass ich die Schule hasse, und ich hasse Prüfungen und Prüfer und Aramanth.«
»Natürlich tust du das. Dafür ist der Morah verantwortlich. Aramanth ist angeblich die vollkommene Gesellschaft. Pah! Haben sie die Angst und den Hass vielleicht besiegt? Natürlich nicht. Dafür sorgt der Morah schon.«
Seltsamerweise fand Kestrel plötzlich alles ganz logisch.
Sie schaute sich noch einmal die Zeichnung auf der Rückseite der Schriftrolle an. »Woher haben Sie die Karte?«
»Von meinem Vater. Er bekam sie von seinem Vater und der von seinem und so weiter bis zu Creoth dem Ersten. Er war derjenige, der die Stimme aus dem Windsänger genommen hat.«
»Um die Stadt vor den Saren zu retten.«
»Oh, also weißt du doch etwas darüber.«
»Warum wollte der Morah die Stimme haben?«
»Damit der Windsänger nicht mehr singen konnte, ist doch klar. Der Windsänger sollte Aramanth vor dem Morah beschützen.«
»Warum hat der Kaiser ihm dann die Stimme gegeben?«
»Warum? Tja, eine gute Frage!« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Aber können wir es ihm verdenken? Er hat die Armee der Saren gesehen und wir nicht. Aus Angst, mein Kind. Das ist die Antwort auf deine Frage. Er wusste, dass der Windsänger eine gewisse Macht besaß, aber würde er die Saren aufhalten können? Durfte er dieses Risiko eingehen? Nein, wir können ihm nicht verdenken, was er vor so langer Zeit getan hat. Wie du hier erkennen kannst…« – er zeigte mit dem Finger auf die merkwürdigen Buchstaben, die um den Rand der Karte liefen –, »hat er es später noch bereut.«
Kestrel betrachtete die unbekannte Schrift. »Also hat der Windsänger die Macht, den Morah aufzuhalten?«
»Wer weiß? Mein Großvater, ein sehr weiser Mann, hat gesagt, die Macht müsse in der Stimme liegen, sonst hätte der Morah sie nicht so dringend haben wollen. Und wie du hier sehen kannst, steht hier auf der Rückseite der Karte: Der Gesang des Windsängers wird euch befreien.«
»Vom Morah?«
»Natürlich vom Morah. Von was denn sonst – von fliegenden
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