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Der Windsänger

Titel: Der Windsänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Nicholson
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Endlich konnten sie den Großen Weg verlassen und den Wolfspfaden zwischen den Bäumen folgen, auf denen sie schneller vorankamen. 
    Bald hatten sie höhere Berghänge erreicht, die Luft war kalt und die Wipfel der Kiefern waren nebelverhangen. Die Bäume wuchsen hier spärlicher. Die Kinder schauten sich um und erblickten, so weit das Auge reichte, unzählige Wölfe, die sich ihnen angeschlossen hatten und mit ihnen zogen, während über ihnen Aberhunderte von Adlern flogen. 
    Vor ihnen ragte nun der Berg auf, der das Ziel ihrer Reise war. Er kam ihnen gewaltig vor, sein runder Gipfel lag so unglaublich hoch, dass sie sich nicht vorstellen konnten, wie sie ihn jemals erreichen sollten, nicht mal auf den Rücken der Wölfe. Und was noch schlimmer war: Es war tatsächlich noch viel weiter, als sie angenommen hatten. Sie erklommen einen Bergkamm und ein bewaldetes Tal tat sich vor ihnen auf. Jetzt merkten sie, dass sie mit dem eigentlichen Aufstieg noch nicht einmal begonnen hatten. 
    Der abschüssige Pfad beschrieb eine Kurve und verschwand danach hinter dem Kamm. Die Wölfe, die die Kinder trugen, liefen jetzt im Schritttempo, während die Adler sich zum Landen bereitmachten. An der Biegung blieben die Wölfe stehen und legten sich hin. Die Kinder begriffen, dass sie absteigen sollten. Nach und nach landeten die vielen hundert Adler auf dem Boden und in den Bäumen. 
    Kestrel sah zu Bowman hinüber, weil sie wissen wollte, was sie nun tun sollten, doch er wusste es auch nicht. Diesmal übernahm Mumpo die Führung. 
    Zur Überraschung der Zwillinge setzte er sich in Bewegung, sobald er abgestiegen war. Er schlurfte, so schnell er konnte, den Pfad hinunter, als triebe ihn eine geheimnisvolle Macht dazu an. 
    »Mumpo! Warte!« 
    Doch er hörte sie nicht. Beim Gehen streckte er die Arme vor, als könnte er das, was ihn magnetisch anzog, auf diese Weise schneller erreichen. Bowman drehte sich zu dem riesigen Wolfsrudel um. Die Tiere saßen oder lagen mit hängender Zunge da und schauten auf ihren Anführer. Dieser saß mit erhobenem Kopf vor ihnen, schnupperte in den Wind und wartete. Auch Bowman nahm einen Geruch wahr. 
    »Rauch.« 
    »Wir dürfen ihn nicht verlieren.« 
    Also folgten sie Mumpo, der inzwischen außer Sichtweite war. Und als sie nach ihm um die Kurve bogen, bot sich ihnen ein außergewöhnlicher Anblick: Unter ihnen lag breit und offen der Große Weg, dem außer Mumpo noch viele andere Gestalten folgten. Wie er hatten sie die Arme ausgestreckt und vom Alter gebeugt humpelten sie voran. Mumpo hatte einen Vorsprung und er rannte fast. 
    Dabei stöhnte und keuchte er und rief mit seiner zittrigen Stimme: »Nimm mich! Nimm mich!« 
    Er lief genau auf die Stelle zu, aus der der Rauch kam. Der Große Weg führte in den Berg hinein: durch eine Felsspalte, die so breit wie die Straße und voll Feuer war. Die Flammen loderten hoch empor und der Rauch stieg über der Spalte ins Freie auf. All die anderen gebückten Gestalten, die sich auf dem Großen Weg befanden – nicht alle waren alte Kinder, aber alle waren alt –, stolperten mit ausgestreckten Armen auf diese Feuerschleuse zu und schrien: »Nimm mich! Mach mich wieder jung!« 
    Mumpo rannte jetzt tatsächlich, zwar unbeholfen und mühsam, aber so, als ginge es um sein Leben. 
    »Mumpo! Nein!« 
    Kestrel lief ihm nach, doch er war zu weit weg und schien sie nicht zu hören. Er rannte genau auf das Feuer zu. Die anderen alten Leute machten es ebenso: Je näher sie dem Feuer kamen, umso schneller liefen sie, als konnten sie den Tod nicht abwarten. Wenn sie die Felsspalte erreichten, ließen sie die Arme sinken und marschierten offenbar ohne Angst oder Schmerzen ins Feuer hinein. Was dann mit ihnen geschah, konnte Kestrel nicht erkennen – sie verschwanden einfach in den grellen Flammen. 
    Bowman holte Kestrel ein. Schweigend betrachteten sie den riesigen Riss in der Bergwand und den herausquellenden Rauch. Sie sahen zu, wie Mumpo stolpernd und schreiend auf die Flammen zulief. »Nimm mich! Mach mich wieder jung!« 
    Dann verstummte sein klägliches Geschrei, er drosselte seinen ungelenken Galopp, humpelte langsam voran und wurde schließlich ebenfalls vom Feuer verschluckt. 
    Schockiert schauten die Zwillinge noch einen Augenblick schweigend auf das Feuer. Dann tastete Kestrel nach der Hand ihres Bruders. 
    Wir müssen ins Feuer gehen. 
    Wir gehen zusammen, antwortete er, weil er wusste, dass es so sein musste. 
    Immer zusammen. 
    So

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