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Der Windsänger

Titel: Der Windsänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Nicholson
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abgelegt zu haben oder er hatte sie in der Faszination über dieses alte Gesicht vergessen. Vorsichtig streckte er eine Hand nach der silbernen Spange aus und hielt den Atem an. Sein ganzer Körper war vollkommen ruhig, seine Finger zitterten nicht, als er die Spange ganz, ganz langsam entfernte. Die alte Dame schlief weiter. Mit einem kaum spürbaren Ruck löste sich die Spange aus dem Haar und jetzt bemerkte Bowman im Lampenschein, dass der Bogen des S mit unzähligen feinen Silberfäden straff umwickelt war. Er atmete aus und zog die Spange weg. Plötzlich spürte er einen Widerstand. Ein einzelnes weißes Haar hatte sich in der Spange verfangen und jetzt spannte es sich und riss. 
    Bowman erstarrte. 
    Kestrel griff nach der Silberspange, der Stimme des Windsängers, und nahm sie ihm aus der ausgestreckten Hand. Lass uns gehen! 
    Doch Bowman hatte den Blick auf die alte Dame geheftet. Ihre Augenlider zuckten und sie öffnete die blassblauen Augen. Erstaunt schauten sie zu ihm auf. 
    »Warum hast du mich geweckt, Kind?« 
    Ihre Stimme war leise und sanft. Bowman versuchte den Blick von diesen klaren Augen abzuwenden, doch es gelang ihm nicht. 
    Bo! Lass uns gehen! 
    Ich kann nicht. 
    Während Bowman wie gebannt in die wasserblauen Augen schaute, merkte er, wie sie sich allmählich veränderten. In den Augen der Alten tauchten andere Augen auf, viele Augen, Hunderte von Augen, die ihn anstarrten. Sie zogen ihn magisch an und in jedem einzelnen entdeckte er weitere Augen, immer mehr, endlos viele. Während er so schaute, spürte er, wie er von einem neuen Geist durchdrungen wurde, einem Geist, der strahlend und kraftvoll war. 
    Wir sind der Morah, sagte die Million von Augen zu ihm. Wir sind Legion. Wir sind alle. 
    »Siehst du«, sagte die Stimme der alten Dame. »Jetzt hast du keine Angst mehr.« 
    Und während sie diese Worte sprach, wusste er, dass sie Recht hatte. Was sollte er fürchten? Solange er in die Million Augen blickte, war er ein Teil der größten Macht, die es gab. Keine Angst mehr. Sollten andere Angst haben. 
    Aus der Ferne hörte er plötzlich leise Musik: Trommeln, Flöten, Trompeten. Das unverkennbare Geräusch einer Marschkapelle, das vom Rhythmus marschierender Füße begleitet wurde. 
    »Bo!«, schrie Kestrel vor Angst auf. »Komm weg hier!« 
    Doch Bowman konnte sich nicht von den blassblauen Augen abwenden, die ihn mit der Legion des Morah verbanden, und er wollte es auch gar nicht. Die rhythmischen Schritte kamen näher, eine schneidige Kapelle vorneweg. 
    »Jetzt kommen sie«, sagte die alte Dame. »Ich kann sie nicht mehr aufhalten.« 
    Kestrel fasste Bowman am Arm und zog daran. Doch ihr Bruder war unerwartet stark und sie konnte ihn nicht von der Stelle bewegen. »Bo! Komm weg hier!« 
    »Meine wunderschönen Saren«, murmelte die alte Dame. »Sie töten so gern.« 
    Töten!, dachte Bowman und spürte, wie ihn ein Schauer der Macht durchlief. Töten! 
    Er blickte auf und sah vor sich an der Wand ein scharfes, fein geschwungenes Schwert. 
    Stampf! Stampf! Stampf!, näherten sich die marschierenden Füße. 
    »Nimm das Schwert«, sagte die alte Dame. 
    »Nein!«, schrie Kestrel. 
    Bowman streckte die Arme aus und nahm das Schwert von der Wand. Der Griff fühlte sich gut an in seiner rechten Hand und die Klinge war fein, aber tödlich. Kestrel trat erschrocken zurück. Und das war auch gut so, denn plötzlich drehte Bowman sich um, lächelte auf eine Art, die sie noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte, und ließ das Schwert genau über die Stelle sausen, an der sie eben noch gestanden hatte. 
    »Töten!«, rief er. 
    O mein Bruder! Was hat sie dir nur angetan? 
    Stampf! Stampf! Stampf! 
    Die Trommeln dröhnten, die Trompeten schmetterten. 
    Kestrel sah sich um und beobachtete entsetzt, wie sich die Schlafzimmerwände langsam in der Dunkelheit auflösten. Die Tür zum Ankleidezimmer, die mit Trophäen behängten Wände 
    – alles verschwand, bis nur noch das Himmelbett und der Nachttisch daneben übrig waren, die vom gedämpften Licht der Lampe erhellt wurden. Dahinter war nur noch schwarze Leere. 
    Stampf! Stampf! Stampf! 
    »Keine Angst mehr«, wiederholte die alte Dame. »Sollen die anderen jetzt Angst haben.« 
    Kestrel wich verängstigt vor Bowman zurück, doch in Gedanken rief sie ihm zu: Mein Bo! Mein Bruder! Komm zurück zu mir! 
    »Töten!«, sagte er nur und schwang das Schwert. »Sollen die anderen jetzt Angst haben!« 
    »Meine wunderschönen

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