Der Windsänger
weitere Tür, gegenüber der Flügeltür – und sie war geschlossen.
So hatten es sich die Zwillinge hier nicht vorgestellt. Eigentlich hatten sie kaum gewusst, was sie erwarten sollten, außer dass sie sich davor fürchten würden. Diese seltsame verlassene Pracht machte ihnen tatsächlich Angst, aber nicht weil eine Gefahr davon auszugehen schien. Sie fürchteten sich, weil sie es nicht verstanden. Nichts, was sie hier sahen, ergab einen Sinn, alles konnte hier passieren. Und sie konnten sich nicht darauf vorbereiten.
Mit leisen Schritten gingen sie an den brokatbezogenen Stühlen vorbei, die an dem langen, glitzernden Tisch aufgereiht waren, bis zur Tür am anderen Ende des Raumes. Wieder blieb Kestrel stehen, lauschte und hörte nichts. Sie öffnete die Tür.
Das Ankleidezimmer einer Dame, erleuchtet von zweiÖllampen. Wunderschöne Kleider hingen in hohen Schränken, deren Türen offen standen. Hemdchen, Strümpfe und Unterröcke lagen ordentlich gefaltet und gebügelt in ebenfalls offenen Kommodenschubladen. Dazu unzählige Schuhe, Pantoffeln und Stiefel. Auf einer Schneiderpuppe hing ein halbfertiges Ballkleid, dessen Säume von Stecknadeln zusammengehalten wurden. Ballen fein gemusterter Seide waren auf einer Chaiselongue ausgebreitet und auf einem intarsienverzierten Tisch lagen Schneiderwerkzeuge bereit: Scheren und Nadeln, Garn, Knöpfe und Borten. In einem hohen Spiegel erblickten die Zwillinge ihr Spiegelbild – blasse und ängstliche Kinder mit weit aufgerissenen Augen, Hand in Hand.
Zwei Türen führten aus dem Ankleidezimmer hinaus, beide standen offen. Hinter der einen befand sich ein dunkles, leeres Badezimmer. Die andere führte in ein Schlafzimmer.
Die Zwillinge blieben reglos in dieser Tür stehen und schauten in den Raum. Auch hier brannte eine Lampe – auf einem niedrigen Nachttisch. Das Zimmer war groß und quadratisch. An den getäfelten Wänden hingen Trophäen – Schwerter und Helme, Flaggen und Wimpel – wie in der Messe eines stolzen Regiments. Doch statt lederner Sessel und Tischen mit Zeitungen gab es hier nur ein hohes, reich verziertes Himmelbett, das genau in der Mitte des blanken Fußbodens stand. Der Baldachin aus dünnem, durchsichtigen Stoff war an einem in die Decke eingelassenen Ring befestigt und bauschte sich wie ein Rock um das ganze Bett. Neben der Lampe standen ein Glas Wasser und ein Teller mit einer Apfelsine. Ein kleines silbernes Messer lag daneben auf dem Nachttisch. Und im Bett – hinter dem hauchdünnen Himmel kaum zu sehen – lag unter spitzenbesetzten Leinenlaken und bestickten Decken, gestützt auf einen Berg von Kissen, eine sehr, sehr alte Dame in tiefem Schlaf.
Die Zwillinge wagten es nicht, die Stille zu stören, in der die alte Dame schlief, und betraten das Zimmer ganz langsam. Die breiten Dielen machten kein Geräusch unter ihren Füßen und sie zwangen sich leise und gleichmäßig zu atmen. So schlichen sie vorsichtig ans Bett und betrachteten die alte Dame durch den Schleier. Sie schlief noch immer.
Ihr Gesicht war im Schlaf ruhig und glatt und unter ihrer papierdünnen Haut zeichneten sich die Knochen ab. Vor vielen Jahren musste sie einmal sehr schön gewesen sein. Bowman schaute sie an und spürte eine fast unerträgliche Sehnsucht, doch er hätte nicht sagen können, wonach.
Kestrels Augen huschten durchs Zimmer und suchten nach einem Schrank oder Behälter, der die Stimme des Windsängers enthalten konnte. Da sie nicht groß war, konnte sie überall sein: hier oder in einem der anderen Zimmer oder an einem Ort, an dem sie noch gar nicht gewesen waren. Zum ersten Mal und mit einem tiefen Schrecken ließ Kestrel den Gedanken zu, dass sie scheitern konnten. Dass sie die Stimme des Windsängers vielleicht nie finden würden.
Ihrem Bruder blieben ihre Gedanken nicht verborgen. Ohne den Blick von der schlafenden alten Dame abzuwenden teilte er seiner Schwester lautlos mit: Hier ist sie. In ihrem Haar.
Kestrel schaute hin und erkannte sie. Das feine weiße Haar der alten Dame wurde von einer silbernen Spange in der Form des Buchstaben S mit einem verschlungenen Ende gehalten – das war das Zeichen, das in den Hals des Windsängers eingeritzt und auf die Rückseite der Karte gemalt worden war. Eine tiefe Erleichterung, die sie genauso plötzlich überkam wie zuvor die Angst, gab ihr neue Kraft und neuen Mut.
Kannst du sie nehmen ohne sie zu wecken?
Ich werde es versuchen.
Bowman schien seine Ängstlichkeit
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