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Der Windsänger

Titel: Der Windsänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Nicholson
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zusammen, so dass Kestrel seine Beine fast entglitten. 
    »Bo! Was ist da los?« 
    Bowman zwang sich über den Rand zu blicken und entdeckte eines der alten Kinder, das sich am Strauch festhielt und Mumpos Arm umklammerte. 
    »Hau ihn, Mumpo!«, kreischte Bowman. »Beiß ihn!« 
    »Was ist da unten los?«, schrie Kestrel, die alle Mühe hatte, Mumpo festzuhalten. 
    »Helft mir!«, rief Mumpo mit kläglicher Stimme, die plötzlich immer tiefer wurde. »Helft mir…« 
    »Es ist eines von den alten Kindern«, erklärte Bowman. 
    Er machte seinen zweiten Nussstrumpf los, versuchte nicht in die Schwindel erregende Tiefe zu blicken und schwang ihn über den Rand. Das beschwerte Ende streifte den alten Jungen aber nur an der Schulter. Er drehte sich um und schaute zu Bowman hinauf. Sein faltiges Gesicht verzerrte sich in Hass und Wut. 
    »Ihr Dummköpfe!«, zischte er. »Ihr törichten kleinen Dummköpfe!« 
    Bowman schaute ihn sich genauer an. Er betrachtete das schüttere graue Haar, die runzligen Wangen und den hageren Hals und spürte das starke, kalte Verlangen zu verletzten und zu zerstören. Er hob den Nussstrumpf in die Höhe, schwang ihn mit aller Kraft und traf das nach oben gewandte Gesicht des alten Jungen. 
    »Aaah!«, schrie der Junge und ließ sofort Mumpos Arm los. Weil er jetzt keinen Halt mehr hatte, rutschte er in den Strauch hinunter. Der Strauch bog sich unter seinem Gewicht und der Junge stürzte in die Tiefe. »Aaa-aa-aa-aa…« 
    Sie hörten seinen Schrei lange und das dumpfe, ferne Geräusch, mit dem er auf den Felsen aufschlug. 
    Kestrel zerrte Mumpo vom Rand des Abgrunds fort und ließ ihn dann los. Ihn festzuhalten raubte ihr alle Kraft. Mumpo blieb regungslos liegen und stöhnte nur ein wenig. 
    »Alles in Ordnung, Mumpo?« 
    Er antwortete mit einer tiefen, krächzenden Stimme. »Mir tut alles weh.« Er wollte aufstehen, doch es war viel zu anstrengend für ihn. Erschöpft setzte er sich wieder und atmete schwer. »Irgendwas stimmt nicht mit mir, Kess.« 
    Kestrel und Bowman starrten ihn ungläubig an und versuchten sich ihr Entsetzen über sein Aussehen nicht anmerken zu lassen. Mumpos geflochtenes Haar war grau geworden, aber immer noch mit Goldfäden geschmückt. 
    Seine Haut war faltig und schlaff, sein Rücken krumm. Er hatte sich in einen kleinen alten Mann verwandelt. 
    »Schon gut, Mumpo«, tröstete ihn Kestrel und konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. »Wir bringen dich wieder in Ordnung.« 
    »Bin ich krank, Kess?« 
    »Ja, ein bisschen. Aber wir werden dich schon irgendwie wieder gesund machen.« 
    »Mein ganzer Körper tut weh.« 
    Er fing an zu weinen – nicht das geräuschvolle Heulen des Mumpo, den sie kannten, sondern ein leises, erschöpftes Klagen, bei dem ein paar winzige Tränen über die tiefen Falten auf seinem Gesicht kullerten. 
    Was sollen wir bloß tun? 
    Wir müssen weitergehen, antwortete Bowman. Laut sagte er: »Kannst du laufen, Mumpo?« 
    »Ich glaube schon.« Diesmal stand er vorsichtig auf und machte ein paar Schritte. »Aber nicht schnell.« 
    »Nicht schlimm. Versuch es nur, so gut es geht.« 
    »Kannst du mir helfen, Bo? Wenn du mich etwas stützen würdest, könnte ich schneller gehen.« 
    »Du darfst uns nicht berühren, Mumpo. Nicht, solange du krank bist.« 
    »Ich darf euch nicht berühren? Warum nicht?« 
    Da wurde den Zwillingen klar, dass er gar nicht begriffen hatte, was mit ihm geschehen war. 
    »Damit du uns nicht ansteckst.« 
    »Ach so. Ja, natürlich. Werde ich bald wieder gesund?« 
    »Ja, Mumpo. Bald.« 
    Also ließen sie den Riss-im-Land hinter sich und folgten dem Großen Weg in die Berge. 
    Sie kamen nur sehr, sehr langsam voran. So sehr Mumpo sich auch bemühte, er konnte nicht in normalem Tempo gehen. Er schlurfte schwerfällig voran und musste oft stehen bleiben und sich ausruhen. Dann schleppte er sich klaglos weiter und man sah ihm an, dass er sein Bestes versuchte. Auf diese Weise würden sie es nie bis zum Gipfel des Berges schaffen, dachten die Zwillinge. 
    Und Mumpo war nicht ihre einzige Sorge: Der Wald um sie herum veränderte sich. Auf der breiten, überwucherten Allee des ehemaligen Großen Weges, der sie folgten, wuchsen zwar keine Bäume, doch der Wald zu beiden Seiten wurde immer dichter und undurchdringlicher. Und manchmal schienen zwischen den Bäumen lautlose Gestalten neben ihnen her zu huschen, immer knapp außer Sichtweite, nie liefen sie voraus und nie fielen sie zurück.

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