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Der Winter tut den Fischen gut (German Edition)

Der Winter tut den Fischen gut (German Edition)

Titel: Der Winter tut den Fischen gut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Weidenholzer
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hebt.
    Fürchten Sie sich, fürchten Sie sich, sagt der Gorilla, treten Sie ein in die Welt der Geister. Die Frau im Kassenhaus liest Zeitung, sie hat ihre Lesebrille aufgesetzt, die an einem goldenen Band um ihren Hals hängt, wenn sie die Brille abnimmt. Ihre blonden Haare sind toupiert. Sie saß schon hier, denkt Maria, als alles begann, sie saß hier, und sie war damals schon alt. Die Fingernägel der Frau im Kassenhaus sind karminrot lackiert. Wer ein Ticket kauft, bekommt einen Jeton, der dem Geisterherrn ausgehändigt werden muss, sagt die Frau in dem Kassenhaus, wenn sie Fahrgästen den Jeton gibt. Ich wünsche eine gute Fahrt, das ist Ihre Fahrkarte, halten Sie bitte Ihre Kinder fest, dass sie nicht hinausspringen. Kinder unter vierzehn Jahren bezahlen den halben Eintritt. Das Kassenhaus ist hoch, Kinder gelangen nur auf Zehenspitzen hinauf, um Geld gegen Jetons zu tauschen.
    Maria möchte die Fahrgäste sehen, wenn sie die Geisterwelt verlassen. Wenn sie lachend aneinanderhängen oder mühsam aus dem Wagen steigen, wenn sie sich vor Lachen ihre Bäuche halten oder wenn ihr Gesicht verloren ist, wie in dem Moment, wenn im Kino das Licht angeht. Maria möchte sehen, wie ihre Blicke sich verhalten, wenn sie in die Welt zurückkehren. Als die Tür sich öffnet und zwei Mädchen kreischend ans Tageslicht kommen, denkt sie: Ich habe unseren ersten Kuss vergessen, irgendwo hier muss es gewesen sein, ich weiß es nicht mehr, haben wir uns in die Augen gesehen, waren meine Augen geschlossen, was habe ich gedacht. Der Jahrmarkt ist eine Vergnügungsstätte. Man vergnügt sich, wenn man lacht, sagte Walter, wenn sie zum Bierzelt aufbrachen.
    Der Jahrmarkt ist in zwei Bereiche unterteilt, damals wie heute. Maria sieht hinüber zu den Zelten. Es riecht nach Bratwürsten, Sauerkraut und Zuckerwatte. Die Jahrmarktbratwürste sind klein und werden über Holzkohle gegrillt, die Jahrmarktbesucher spießen die Würste auf kleine Holzgabeln, die anschließend mit den Papptellern entsorgt werden. Die Zuckerwatte klebt den Kindern an den Fingern und im Gesicht, manche reißen Zuckerwattestücke ab und formen sie in ihren Händen zu kleinen Kugeln, die hart sind und schnell in ihren Mündern verschwinden, die öfter lachen als Alltagsmünder. Wenn man das so sagen kann, denkt Maria, als sie wieder zum Geisterbahneingang sieht. Ein zweiter Geisterbahnmitarbeiter steht davor, nicht der, der die Fahrgäste erschrickt. Er wirft seine Zigarette zu Boden, er öffnet das Absperrungsband, nachdem der Wagen aus dem Dunkeln ins Freie geruckelt ist. Der Geisterbahnmitarbeiter weist mit einer Armbewegung zum Ausgang, die Fahrgäste folgen ihm. Unter dem Pullover zeichnet sich sein Bauch ab, ein kleiner Bauch, der Späteres ahnen lässt, und Maria kann den Blick nicht abwenden. Die Geisterbahnmitarbeiter wechseln häufig, dieser trägt Schnurrbart und ist trotz des Bauches dünn. Als alle Fahrgäste die Geisterbahn verlassen haben, weist er mit einer ähnlichen Armbewegung den neuen ihre Plätze zu. Er fragt nach den Fahrkarten, er steckt die Jetons in seine Bauchtasche, er wünscht eine gruselige Reise, dann zündet er sich eine neue Zigarette an. Fürchten Sie sich, fürchten Sie sich, treten Sie ein in die Welt der Geister, sagt der Gorilla, er macht keine Pause: Hier kann man das Grauen entdecken, hier sind die Geister der Unterwelt, der Henker wartet auf dich. Der Geisterbahnmitarbeiter raucht und sieht dabei mehrere Male zu Maria herüber, die vor der Geisterbahn steht und den Ausgang fixiert. Einmal zwinkert der Mann ihr zu, und Maria wischt mit dem Zeigefinger über ihr Auge.

33 Unter dem Schirm
    Was sollen wir machen, fragt Kurt. Beobachten, sagt Maria, wir sollen beobachten. Zu viert stehen Kurt, Maria und die beiden Frauen auf der Einkaufsstraße. Maria hat die Namen der Frauen vergessen, sie möchte nicht noch einmal fragen. Wir sollen die Menschen beobachten, wie sie arbeiten. Wir sollen notieren, wie alt sie sind, wir sollen notieren, wie sie mit Kundschaft umgehen, welchen Eindruck sie machen, wie sie sich verhalten, wie sie gekleidet sind. Blödsinn, sagt Kurt, das ist doch Blödsinn. Wer schreibt mit, fragt die Blonde, und die Brünette holt Zettel und Stift aus der Jackentasche. Es regnet, und Kurt hat keinen Schirm, weshalb er sich unter Marias Regenschirm duckt. Kurt ist größer als Maria, sie muss ihren Arm weit nach oben strecken, damit er unter dem Schirm Platz findet. Blödsinn, das ist doch Blödsinn, sagt Kurt und

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