Der Winterpalast
überlegte, was als Nächstes an die Reihe kam.
»Euer Hoheit«, sagte ich, »darf ich offen sprechen wie ein Soldat?«
»Nur zu.«
»Falls Prinzessin Sophie stirbt, wird die Kaiserin es Eurer Hoheit nie verzeihen, dass Sie es unterlassen haben, sie von der Krankheit der Prinzessin zu unterrichten.«
»Sie wird nicht sterben.« Er zuckte die Schultern. »Sophie ist stärker, als du denkst, sie wird uns alle überleben.«
»Was werden Sie antworten, wenn die Kaiserin Sie fragt, warum Sie nichts getan haben, um das Leben Ihrer Verlobten zu retten?«
Er wurde unsicher, auch er lebte in ständiger Furcht vor Elisabeths Zorn.
Ich hatte Papier, Federn und Tinte mitgebracht, auch eine Streusandbüchse hatte ich dabei.
Seufzend setzte er sich hin und schrieb einen Brief an die Kaiserin. Als er fertig war, faltete er das Blatt, ließ sorgsam genau in die Mitte rotes Wachs tropfen und drückte sein Siegel darauf.
Im Geist sah ich die Kaiserin, die, schwarz gekleidet, den Kopf mit einem Tuch bedeckt, zu dem goldenen Bildnis der Jungfrau emporblickte. Ich sah den Boten auf der Landstraße nach Jaroslawl, vor ihm in der Ferne die blauen und goldenen Zwiebeltürme des Klosters.
Ich bin überzeugt, dass Fürstin Johannas Starrsinn der Genesung ihrer Tochter im Wege steht , so hatte der Großfürst auf mei
nen Vorschlag hin geschrieben. Sophie braucht den Beistand einer echten Mutter.
Ein Pferd wurde aus dem Stall geführt, sein Reiter würde das Kloster noch vor Tagesanbruch erreichen. Am Abend konnte die Kaiserin in Moskau sein.
Schnell , murmelte ich, kommen Sie schnell.
Wenn irgendjemand Sophie noch retten kann, dann Sie.
Die Kaiserin kam mitten in der Nacht, das Kinn bebend vor Wut. Ein beißend saurer Geruch zog hinter ihr her, als sie in Sophies Zimmer stürmte.
»Geh mir aus den Augen, du Schlampe«, fauchte sie die Fürstin an. Diese war klug genug, sich eilig in ihr Zimmer zurückzuziehen. Die Mädchen, die ihr am nächsten Tag Essen aus der Küche brachten und ihren Nachttopf leerten, erzählten unter viel Gelächter, dass sie immer noch jedes Mal ängstlich zusammenfuhr, wenn sie an ihrer Tür klopften.
Überall nichts als Selbstsucht und Gier, schrie die Kaiserin. Feiglinge und Dummköpfe allesamt. Wenn nicht der Großfürst Verstand bewiesen hätte, dann wäre sie nur noch rechtzeitig zu einem Begräbnis hierhergekommen.
Der Hofarzt wies darauf hin, dass Fürstin Johanna ihm nicht erlaubt habe, die Patientin zu untersuchen, und Einspruch gegen einen Aderlass erhoben habe. »Und davon haben Sie sich beeindrucken lassen?«, zischte die Kaiserin und entließ ihn aus ihrem Dienst.
Graf Lestocq trat an Sophies Bett und schlug die Decke zurück. Der frühere Liebhaber der Kaiserin, ehemals Hofchirurg der Kaiserin Anna, war einer der Verschwörer gewesen, die Elisabeth an die Macht brachten. Am Vorabend des Staatsstreichs hatte er Elisabeth, die noch zögerte, den letzten entscheidenden Schritt zu tun, zwei Spielkarten hingehalten; auf die eine hatte er eine Krone, auf die andere einen Galgen gezeichnet. »Sie haben nur die Wahl zwischen diesen beiden«, hatte er gesagt.
Er nahm jetzt eine Lanzette mit einem Elfenbeingriff zur Hand, schärfte die Klinge auf einem Wetzstein, zog sie auf einem Riemen ab und machte sich dann an die Arbeit. Sobald das Blut zu fließen begann, regte sich Sophie und öffnete die Augen.
Eine Stunde lang saß Elisabeth an Sophies Bett. Sie wischte der Kranken den Schweiß von der Stirn und redete beruhigend auf sie ein. »Ich bin bei dir«, sagte sie immer wieder. »Von jetzt an werde ich mich um dich kümmern.«
Als ein Lakai meldete, dass ein protestantischer Pastor da sei, richtete sich die Prinzessin auf und murmelte ganz leise etwas in flehendem Ton.
Die Kaiserin beugte sich zu ihr vor, um zu verstehen, was sie sagte.
Und dann wandte sie sich uns zu. Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Dieses Kind … dieses gesegnete Kind«, hauchte sie mit zitternder Stimme. »Sie hat mich gebeten, den Pastor fortzuschicken. Sie möchte, dass ich einen orthodoxen Priester rufen lasse.«
Der ganze Hof war versammelt, als am 28. Juni 1744 die Prinzessin von Anhalt-Zerbst in die Kapelle des Golowin-Palais einzog, um in die orthodoxe Kirche aufgenommen zu werden. In ihrem scharlachroten, mit silbernen Borten besetzten Kleid, ein schlichtes weißes Band im ungepuderten Haar, wirkte sie prächtig und zugleich rührend kindlich. Die Kaiserin selbst hatte ihr Rouge aufgelegt und
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