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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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mich tobten Stürme hinweg, und ich hielt mich fest und hoffte, dass die Strömungen und Wellen mich nicht fortschwemmten. Würde es irgendjemand merken, wenn ich umkäme?
    Sie hat immer noch ihren Vater, zu dem sie zurückkehren kann , dachte ich, aber ich habe niemanden. Ich hörte die warnende Stimme in meinem Kopf: Was geht dich Sophie an? Treib es nicht zu weit.
     
    Die Kaiserin befand, die Fürstin habe zu wenig auf die richtige Ernährung ihrer Tochter geachtet. Sophie sei zu mager, zu knochig. Was sie brauche, sei einfache, gute russische Kost, wie Elisabeth selbst sie als junges Mädchen gegessen hatte, dunkles Roggenbrot, Schtschi – Sauerkrautsuppe, eingedickt mit Hafermehl –, Kascha mit Pilzen. Bei den Mahlzeiten ließ die Kaiserin die Prinzessin an ihrer Seite Platz nehmen und freute sich, wenn ihr junger Gast mit gutem Appetit einen Teller nach dem anderen leerte und immer neue Gerichte zu ihren Lieblingsspeisen erklärte, bevor die nächste Köstlichkeit aufgetischt wurde.
    Das, dachte ich, war ein gutes Zeichen.
     
    Ende Februar begann die Kaiserin sich auf ihre alljährliche Wallfahrt zum Kloster der Dreifaltigkeit und des heiligen Sergius vorzubereiten, und ich wurde nicht mehr zu nächtlichen Berichten einbestellt. In dieser Zeit der Buße interessierte sich Elisabeth nicht für die Geheimnisse ihrer Höflinge, sie hörte lieber Geschichten von jungen Adeligen, die in Armut lebten und nach Heiligkeit strebten.
    Im Kloster wollte die Kaiserin, das Gesicht von schwarzer Spitze umschleiert, der leere Magen von Hunger gepeinigt, zur heiligen Jungfrau von Smolensk um Vergebung ihrer Sünden flehen. Für jede durchzechte Nacht, für jede Nacht, in der sie sich einen der Gardesoldaten ins Bett geholt hatte, würde sie mit einem Kuss auf die gemalte Hand der Jungfrau und mit einem Gebet büßen.
Es hatte viele solche Nächte gegeben im Lauf des Jahres, und sie hatte viel zu beten. Alle irdischen Angelegenheiten mussten warten, bis sie zurückkehrte.
    Wir alle freuten uns auf diese Zeit, nicht nur deswegen, weil die Kaiserin abwesend sein würde.
    Das Fasten und Beten zwang Elisabeth dazu, an die Ewigkeit zu denken. In den ersten zwei Tagen nach ihrer Rückkehr sprach sie von nichts anderem als von Barmherzigkeit und Vergebung. Es war die beste Zeit, der Kaiserin Vergehen zu beichten und um Gnade zu flehen, Gesuche und Bitten vorzutragen. Der Hofbeamte, der das Glück hatte, die Audienzliste führen zu dürfen, konnte besonders üppige Schmiergelder einstreichen.
    Dieses Jahr allerdings spielten die Segnungen der kaiserlichen Bußfertigkeit in den Überlegungen des Kanzlers eine untergeordnete Rolle.
    An dem Tag, an dem die Kaiserin sich ins Kloster des heiligen Sergius begab, sollte die Unterweisung Sophies im orthodoxen Glauben beginnen.
     
    Der Großfürst setzte seine täglichen Besuche bei seiner Verlobten fort, indes schlich sich im Verhältnis der beiden nach der Abreise der Kaiserin eine gewisse Missstimmung ein. Es war nur eine leichte Dissonanz, aber für mein Ohr war sie deutlich genug.
    Es begann damit, dass die Prinzessin in ihrem Zimmer eine Gebetsecke mit einer Ikone der Jungfrau von Wladimir einrichtete, vor der sie sich jedes Mal verneigte, wenn sie den Raum betrat.
    »Was soll das?« Peter rümpfte die Nase. »Sie sind noch nicht einmal konvertiert.«
    Das war nicht das Einzige, was ihm missfiel. Er fand es übereifrig, dass sie auch jetzt, da die Kaiserin nicht da war, Roggenbrot und Blini zum Frühstück aß, dass sie Kwass trank und jede Gelegenheit nutzte, russisch zu sprechen.
    »Wie ein gehorsames Schaf«, hatte er gesagt.
    Ich sah oft Tränen in ihren Augen, aber sie hatte gelernt, den
Mund zu halten. Sie beklagte sich nicht, wenn Peter ihr beibrachte, wie man im Paradeschritt marschiert und das Gewehr präsentiert, sie bat nur darum, bei diesen Übungen statt der befohlenen blauen Holsteiner Uniform den grünen Rock des Preobraschenski-Regiments tragen zu dürfen, und als er ihr diesen Wunsch abschlug, fügte sie sich. Unter Peters energischem Kommando exerzierte sie auf den Fluren des Schlosses. »Hoch das Bein!«, hörte ich ihn rufen. »Höher, Sophie. Tempo, Tempo!«
    Sie bemühte sich. Sie paukte ganze Nächte lang russische Vokabeln, schrieb lange Passagen aus russischen Büchern ab. Wenn sie ihr Tagespensum erledigt hatte, übte sie sich darin, das orthodoxe Glaubensbekenntnis laut vorzulesen. Ich hörte oft noch spät in der Nacht ihre Stimme, die immer wieder über

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