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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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zurück, um ihrem Neffen beizustehen.
    Alle hielten den Atem an.
    In den ärztlichen Bulletins aus Chotilowo war von unruhigen Nächten und hohem Fieber die Rede und von dem starken Lebenswillen des Patienten. In allen Kirchen Russlands beteten Priester für Peter Fjodorowitsch und die Kaiserin. Sie pflegte das Kind ihrer geliebten Schwester, als wäre es ihr eigenes, saß Tag und Nacht an seinem Bett, wusch mit eigener Hand die Wunden in seinem Gesicht und an seinem Körper, fütterte ihn mit Fleischbrühe und gab ihm Medizin, redete ihm beruhigend zu, wenn er vor Schmerzen schrie und weinte.
    Im Palast erörterte man tuschelnd die Möglichkeiten. Der Tod konnte die Karten neu mischen. Kam jetzt der andere Thronfolger wieder ins Spiel, Iwan VI ., jenes Kind, das seit dem Tag, an dem die russische Tochter Peters des Großen die Macht an sich gerissen hatte, sein Leben in einer Gefängniszelle zubringen musste?
    Oft wurde die Erinnerung an jene Novembernacht vor drei Jahren heraufbeschworen, in der die Garden Prinzessin Elisabeth in den Winterpalast heimführten: Schön wie eine Madonna auf einer Ikone saß sie in einem Schlitten, ein russisches Kreuz in den Händen, einen ledernen Panzer um die Brust – triumphierend, aber schutzbedürftig, stark, aber hungernd nach Liebe. Einer nach dem anderen waren die Soldaten der Leibregimenter vor ihr niedergekniet, hatten den Saum ihres Gewands geküsst und geschworen, sie mit ihrem Leben zu verteidigen.
    Elisabeth hätte Iwan töten lassen können, aber sie hatte ihn verschont. Vielleicht aus einem bestimmten Grund?
    Während der Großfürst mit dem Tod rang, nahm das Getuschel zu. Die Kaiserin konnte das Ruder immer noch herumwerfen und Iwan zum Kronprinzen machen.
     
    Die Kaiserin und der Großfürst weilten fern von Sankt Petersburg, das höfische Leben im Palast stand still, politische Entscheidungen wurden vertagt. Es fanden keine Empfänge und Audienzen mehr statt, die Türen blieben geschlossen, keine festliche Musik drang mehr durch die Fenster. Den Audienzsaal bevölkerten nur noch Katzen. Sie streckten sich auf Polstermöbeln aus oder jagten einander durch den Raum.
    Lakaien und Zofen saßen stundenlang untätig auf den Stufen der Dienstbotentreppen herum, schwatzten und kicherten und kümmerten sich nicht darum, wenn sie anderen Leuten den Weg versperrten. In den Ställen spielten die Wachsoldaten Karten, schnupften, tranken Wodka und versuchten jedes Mädchen zu betatschen, das in ihre Nähe kam.
    Alles wartete.
    Katharina und ihre Mutter wohnten nicht im Winterpalast, sondern hatten ein Haus in der Millionnajastraße. Das Interesse an ihnen ebbte rasch ab, in den Spekulationen der Höflinge spielten sie kaum noch eine Rolle. Wenn der Großfürst starb, würde die Kaiserin keine Verwendung mehr für sie haben. Die Fenster des zweigeschossigen Hauses waren immer geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Der deutsche Tuchhändler Leibnitz und die anderen Nachbarn, zumeist Gardeoffiziere und ihre Familien, hatten viel unter dem Lärm von Gläubigern zu leiden, die tags und nachts an die Tür hämmerten, sich lautstark selbst verfluchten, weil sie so dumm gewesen waren, diesen Ausländerinnen zu trauen, und darüber lamentierten, dass die Mächtigen dieser Welt ihre Schulden nicht bezahlten.
    Ich dachte an die beiden Bienen in dem Stück Bernstein, das
Katharina mir geschenkt hatte. Wir sind beide fremd hier , hatte sie gesagt.
    Bald würde sie gehen müssen. Was wäre Schlimmes daran, wenn ich ein bisschen nett zu ihr wäre?
     
    Ich ging zu dem Haus in der Millionnajastraße und läutete. Es war kalt und windig, bald würde es schneien. Ein Schlitten fuhr mit klingelnden Glöckchen vorbei. Ein schmaler Streifen neben der Straße war für Fußgänger geräumt und mit Sand und Asche bestreut.
    Das Mädchen, das mich einließ, konnte der Versuchung nicht widerstehen, mich zu fragen, ob ich etwas davon gehört hätte, wann die Großfürstin wieder im Palast wohnen dürfe.
    Ich schüttelte den Kopf. Auf dem Flur roch es nach Rauch und Schimmel.
    Sie führte mich ins Obergeschoss in einen kleinen Salon. Der mit Holz getäfelte Raum wirkte ziemlich düster, die Samtvorhänge vor den Fenstern, die zur Straße hinausgingen, waren zugezogen. Es war billiger Samt aus Baumwolle, nicht aus Seide. Nur durch ein schmales Fenster zur Hofseite hin fiel Licht ein. In einer Ecke stand ein großer Kachelofen, der angenehme Wärme ausstrahlte. Auf einem Tisch neben einem Clavichord

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