Der Winterschmied
die reisenden Lehrer ins Dorf gekommen waren. Alle schienen ihn zu kennen:
Genug Eisen für einen Nagel,
Genug Kalk, um eine Wand zu weißen,
Genug Wasser, um einen Hund zu ertränken,
G enug Schwefel, um die Flöhe zu töten,
Genug Pottasche, um ein Hemd zu waschen,
Genug Gold, um eine Bohne zu kaufen,
Genug Silber, um eine Nadel zu plattieren,
Genug Blei, um einen Vogel zu beschweren,
Genug Phosphor, um den Ort zu beleuchten...
Und so weiter, und so fort...
Es war die Art Unsinn, die man anscheinend nie gelernt, aber immer gewusst hat. Kinder spielten danach Hüpfspiele und benutzten ihn als Abzählreim.
Und eines Tages stellte einer der reisenden Lehrer, der wie alle anderen für Eier, frisches Gemüse und saubere gebrauchte Kleidung unterrichtete, durch Zufall fest, dass er mehr zu essen bekam, wenn er von interessanten anstatt von nützlichen Dingen berichtete. Er erzählte, dass bestimmte Zauberer einst mit Hilfe höchst ausgefeilter Magie herausgefunden hatten, woraus genau ein Mensch bestand. Menschliche Wesen waren größtenteils aus Wasser gemacht, aber auch aus Eisen, Schwefel, Ruß und einer Prise von praktisch allem, was es sonst noch gab, sogar einem winzigen bisschen Gold. Alles zusammen machte einen Menschen aus.
Für Tiffany ergab es ebenso viel Sinn wie alles andere. Doch in einem Punkt war sie sicher: Wenn man all das nahm und in eine große Schüssel füllte, so würde bestimmt kein Mensch daraus, so sehr man auch darauf einbrüllte.
Man konnte kein Bild erschaffen, indem man viel Farbe in einen Eimer schüttete. Als Mensch wusste man das.
Der Winterschmied war kein Mensch. Der Winterschmied wusste es nicht...
Er wusste auch nicht, wie das Lied endete.
Die Zeilen gingen Tiffany immer wieder durch den Kopf, während der geliehene Besen seinen Flug fortsetzte. Einmal meldete sich Professor Hetzig mit seiner quäkenden, selbstzufriedenen Stimme zu Wort und hielt ihr einen Vortrag über die Niederen Elemente. Er betonte, dass Menschen praktisch aus ihnen allen bestünden, außerdem aber auch viel Narrativium enthielten, das Grundelement von Geschichten, das man nur entdecken konnte, wenn man das Verhalten der anderen beobachtete...
»Du läufst weg, du fliehst. Wie gefällt dir das, Schafmädchen? Du hast ihn mir gestohlen. Ist er all das, was du dir erhofft hast?« Die Stimme kam direkt neben ihr aus der Luft.
»Es ist mir gleich, wer du bist«, brummte Tiffany. Ihr war so kalt, dass sie nicht mehr klar denken konnte. »Verschwinde ...«
Stunden vergingen. Die Luft hier unten war ein wenig wärmer, und es schneite nicht ganz so heftig, aber die Kälte durchdrang die Kleidung immer noch, ganz gleich, wie viel man trug. Tiffany bemühte sich, wach zu bleiben. Manche Hexen konnten auf einem Besen schlafen, aber sie versuchte es nicht, aus Furcht davor, von einem Sturz in die Tiefe zu träumen und beim Erwachen festzustellen, dass sie tatsächlich fiel, aber nicht mehr lange.
Schließlich sah sie unter sich flackernde, gelbe Lichter. Vermutlich handelte es sich um das Gasthaus bei Zweihemden, eine wichtige Navigationsmarke.
Hexen übernachteten nicht in Gasthäusern, wenn es sich vermeiden ließ, denn in manchen Gegenden konnte das gefährlich sein, und außerdem hatte die Sache den sehr unangenehmen Aspekt, dass man dafür meistens bezahlen musste. Aber Frau Umbritsch, die den kleinen Souvenirladen auf der anderen Straßenseite führte, hatte eine alte Scheune und war etwas, das Fräulein Tick FzH nannte: Freundlich zu Hexen. Es gab sogar ein an die Scheunenwand geritztes Hexenzeichen, an einer Stelle, wo es niemand finden würde, der nicht danach suchte: ein Löffel, ein spitzer Hut und ein großes, schulmeisterliches Häkchen.
Nie war Tiffany ein Haufen Stroh verlockender erschienen, und zwei Minuten später lag sie darin. Am anderen Ende der Scheune hielten die beiden Kühe von Frau Umbritsch die Luft warm und rochen nach vergorenem Gras.
Es war ein dunkler Schlaf. Tiffany träumte von Annagramma, die ihre De-Luxe-Maske abnahm und ihr Gesicht zeigte, und dann nahm sie auch das Gesicht ab, und darunter kam Oma Wetterwachs zum Vorschein...
Und dann: War das einen Tanz wert, Schafmädchen? Du hast mir die Macht genommen, und ich hin schwach. Die Welt wird zu Eis. War das einen Tanz wert?
Tiffany setzte sich in der stockfinsteren Scheune auf und glaubte, ein Licht in der Luft zu sehen, das sich krümmte wie eine Schlange. Dann sank sie in die Dunkelheit zurück
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