Der Wissenschaftswahn
häufiger kam es zu regelrechten Anstellungen: Wissenschaftler wurde zunehmend ein bezahlter Beruf. [603]
Mit wachsender Macht und steigendem Ansehen entstand in den Naturwissenschaften der Wunsch nach gesichertem Status und Autorität. Die Wissenschaftshistorikerin Patricia Fara verdichtet die Situation im neunzehnten Jahrhundert zu diesem Bild:
Die auf Prestige bedachten Wissenschaftler wünschten sich die Befugnis zu behaupten, sie hätten unbestreitbar recht und die in ihren Laboratorien gewonnenen Erkenntnisse seien unwiderlegbar. Man erfand neue Spezialgebiete, aber nicht alle wurden der Bezeichnung »Wissenschaft« für wert befunden. Die Naturwissenschaft spaltete sich in Disziplinen auf – und in diesem Wort schwingen Kontrolle und Lehre mit. Wie der Grenzschutz eines Landes entlang der Grenzen patrouilliert, so setzten Wissenschaftler selbstherrlich fest, welche Themen zu ihrem Hoheitsgebiet gehören sollten und welche zu verbannen waren. [604]
Es gibt inzwischen Hunderte naturwissenschaftliche Spezialgebiete, jedes mit seinen Verbänden, Zeitschriften und Kongressen. Schon längst macht auch der böse Spruch die Runde, die Spezialisten wüssten immer mehr über immer weniger, und in den Naturwissenschaften produziert dieser Trend weiterhin immer noch kleinere Wissensbereiche, die natürlich auch wieder ihre Fachzeitschriften brauchen. 2011 gab es etwa fünfundzwanzigtausend wissenschaftliche Zeitschriften. [605]
Es mag nicht Aufgabe dieser Spezialisten sein, über die philosophischen Grundlagen der Naturwissenschaften nachzudenken. Das tun die Wissenschaftshistoriker und -philosophen, doch auch sie beackern ein Spezialgebiet, das für den realen Wissenschaftsbetrieb nur am Rande von Interesse ist. So pflanzt sich die alte physikalistische und materialistische Ideologie mangels Alternativen einfach fort, ohne ernsthaft in Frage gestellt zu werden. Das verschafft der Physik den Platz an der Spitze der Wissenschaftspyramide, denn der nicht hinterfragte Physikalismus besagt ja, dass letztlich alles in den Begriffen der Physik erklärbar ist.
Physikalismus und Physik
Die Vision eines einfachen und einheitlichen Bildes der Natur stammt aus der Physik, und die Physiker sehen ihr Gebiet gern als die vereinigende Grundlage aller übrigen Wissenschaften. Es trifft zu, dass alle materiellen Dinge aus Quantenpartikeln bestehen, dass mit allen physikalischen Vorgängen Energieströme verbunden sind und dass alle physikalischen Ereignisse in dem durch das universale Gravitationsfeld gegebenen Rahmen der Raumzeit stattfinden. Aber all das sagt uns herzlich wenig über das Wachstum von Kiefern, die Wirkung der Sexualhormone, das Sozialleben der Bienen, die Entwicklung der indoeuropäischen Sprachen oder das Design von Computersoftware.
Und allen, die im Interesse eines einheitlichen Bildes der Natur alles auf Physik zurückführen möchten, muss darüber hinaus noch gesagt werden, dass sich die Physik selbst seit Jahrzehnten einer Vereinheitlichung widersetzt. Ihre beiden modernen Grundtheorien, die Quantenmechanik und die allgemeine Relativitätstheorie, sind nicht miteinander vereinbar. Die allgemeine Relativitätstheorie hat die Makrostruktur des Universums – Planeten, Sterne und Galaxien – zum Gegenstand und beschreibt die Gravitation, eine der vier »Grundkräfte«. Die Quantenmechanik beschreibt die übrigen drei Grundkräfte – Elektromagnetismus sowie starke und schwache Wechselwirkung – und ist auf der atomaren und subatomaren Ebene von größter Genauigkeit. Aber die beiden Theorien gehen von verschiedenen Annahmen aus, und alle Bemühungen, sie zu vereinigen, sind bisher gescheitert. [606]
Das ist der Punkt, an dem die Superstring- und die M-Theorie mit ihren zehn beziehungsweise elf Dimensionen (siehe Kapitel 3 ) ansetzen, doch auch sie verschaffen der Physik keine neue Einheit, sondern generieren mögliche Welten in unübersehbarer Zahl. Die Vereinigung wird mit einer massenhaften Vermehrung der Universen erkauft. Universen außer unserem eigenen sind weder je beobachtet worden noch überhaupt beobachtbar. Was für eine Vereinigung soll das sein? Es sieht eher nach kaum noch zu überbietender Vielheit aus.
Die Physik führt den Reigen der mechanistischen Naturwissenschaften auch historisch an, da sie aus dem Studium der Mechanik, Astronomie und Optik an den Universitäten des Mittelalters hervorging. Sie genießt außerdem das höchste Ansehen, weil sie sich für die fundamentalen
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