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Der Wissenschaftswahn

Der Wissenschaftswahn

Titel: Der Wissenschaftswahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rupert Sheldrake
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und Molekülen über einzellige und vielzellige Lebewesen bis hin zu ihrer selbst bewussten Menschen und ihren kulturellen Einrichtungen – desto klarer wird, dass sie nach ganz anderen Prinzipien funktionieren. Das Verhalten komplexer Systeme ist nicht aus den Eigenschaften ihrer Bestandteile abzuleiten, weshalb man eigenständige »Sprachen« braucht, um sie wissenschaftlich beschreiben zu können. Damit ist die Vielzahl unserer Naturwissenschaften das direkte Abbild des Universums, in dem wir leben. [600]

    Es gibt viele Naturwissenschaften und viele Naturen, und folglich gibt es nicht
die
wissenschaftliche Methode, sondern verschiedene Wissenschaften müssen unterschiedliche Methoden anwenden. [601] Gestein untersuchende Geologen machen andere Beobachtungen als Astronomen bei der Beobachtung ferner Galaxien mittels Radioteleskopen oder als Biochemiker, die sich mit den Eigenschaften von Eiweißmolekülen befassen, oder als Ökologen im Regenwald. Zu manchen Naturwissenschaften gehören Experimente, zu anderen nicht. Ein Astronom kann an einem Stern nichts ändern, um zu sehen, was dann passiert; ein Paläontologe kann sich nicht in die Urzeit zurückversetzen, um die Sedimentbildung in den damaligen Weltmeeren zu verändern. Manche Naturwissenschaften wie etwa die theoretische Physik sind hochmathematisch, aber andere, zum Beispiel die Taxonomie der Libellen, sind es nicht.
    »Naturwissenschaft« ist eine Abstraktion. Wissenschaftler arbeiten auf ihren Spezialgebieten, und Studenten studieren eine oder mehrere dieser Wissenschaften. Auf der Universität haben sie zwischen vielerlei Möglichkeiten eine Wahl zu treffen. An der Cambridge University beispielsweise musste ein Student, der im zweiten Jahr seines naturwissenschaftlichen Studiums war, 2011 drei Kurse von der folgenden Liste belegen: [602]

    Biochemie und Molekularbiologie
Chemie A (überwiegend theoretisch)
Chemie B (anorganisch, organisch und biologisch)
Experimentelle Psychologie
Geowissenschaften A (Oberflächenverhältnisse)
Geowissenschaften B (Untergrundprozesse)
Geschichte und Philosophie der Wissenschaft
Materialwissenschaft
Mathematik
Neurobiologie
Ökologie
Pathologie
Pharmakologie
Physik A (überwiegend Quantenphysik)
Physik B (insbesondere Mechanik, Elektromagnetismus und Thermodynamik)
Physiologie
Pflanzen- und Mikrobiologie
Tierbiologie
Zell- und Entwicklungsbiologie

    Diese Kurse sind thematisch breit gefächert und decken eine Reihe von Spezialgebieten ab. In der Tierbiologie beispielsweise gibt es Abschnitte über Ökologie, Gehirn und Verhalten, Insektenbiologie, Evolution der Wirbeltiere und Prinzipien der Evolution. Niemand studiert »Naturwissenschaft«, und weniger als 20 Prozent der Studenten belegen Geschichte und Philosophie der Wissenschaft.
    Studenten nehmen die Grundanschauungen über die Natur der Realität als überall vorausgesetzte unausgesprochene Selbstverständlichkeiten auf oder erfahren darüber in populärwissenschaftlichen Publikationen. Materialismus wird nicht explizit gelehrt, viele Studenten und Wissenschaftler merken nicht einmal, wie weitgehend Theorie und Praxis ihres Fachgebiets davon geprägt sind. So ist es für die meisten Neurowissenschaftler keine Frage, dass der Geist im Gehirn ist und Erinnerungen als materielle Spuren gespeichert sind. Solche Annahmen werden nicht etwa als Einzelfragen einer Philosophie der Natur angesehen oder als überprüfbare Hypothesen; sie gehören einfach zum derzeitigen Paradigma oder Konsens, und mächtige Tabus schützen sie gegen abweichendes Denken.
    Übrigens hat gerade die Auffächerung der Naturwissenschaft in verschiedene Disziplinen zur Prägung der Bezeichnung »Naturwissenschaftler« geführt. Bei der dritten Jahrestagung der British Association for the Advancement of Science 1833 fanden die Delegierten, es müsse eine übergreifende Bezeichnung für die diversen Interessen geben, und der Mathematiker und Astronom William Whewell schlug »Scientist« vor. In Amerika wurde diese Bezeichnung sofort begeistert aufgenommen. In Großbritannien, wo wissenschaftliche Forschung damals noch weitgehend eine kostspielige Beschäftigung der gut Situierten war, verdrängte »Scientist« oder eben »Wissenschaftler« beziehungsweise »Naturwissenschaftler« nur langsam die gebräuchlichen älteren Bezeichnungen wie »Mann der Wissenschaft«, »Naturforscher« oder »Experimentalphilosoph«. Doch je mehr geforscht wurde und auch die Bildungseinrichtungen nachzogen, desto

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