Der Wissenschaftswahn
sollen Wissenschaftler mit ideologisch, politisch oder kommerziell motivierter Skepsis umgehen?
Zusammenfassung
Wissenschaftlern wird gern ein geradezu übermenschliches Maß an Objektivität zugetraut. Dieser Glaube verdankt sich dem Ideal der körperlosen Erkenntnis, der Ehrgeiz, Hoffnungen, Befürchtungen und andere Gefühlsregungen nichts anhaben können. Im Höhlengleichnis wagen sich die wahren Wissenschaftler hinaus ins Licht der objektiven Wahrheit und kehren mit ihren Entdeckungen zurück zu den in ihren Meinungen, ihrem Eigeninteresse und ihren Illusionen befangenen gewöhnlichen Menschen. Vielfach haben die Wissenschaftler ihre Objektivität mit dem Gebrauch des Passivs (»Ein Reagenzglas wurde gefüllt«) anstelle des Aktivs (»Ich füllte ein Reagenzglas«) zu unterstreichen versucht, doch diese unaufrichtige Praxis wird jetzt von vielen aufgegeben. Wissenschaftler sind natürlich Menschen und unterliegen dem Einfluss ihrer Persönlichkeit, dem Druck seitens der Politik und ihrer Fachkollegen, sie unterliegen Modeströmungen und müssen um Forschungsmittel wetteifern. In Medizin, Psychologie und Parapsychologie ist den meisten Forschern bewusst, dass ihre Erwartungen auf die Forschungsergebnisse abfärben können, weshalb in vielen Fällen Blind- und Doppelblindverfahren angewandt werden. In den sogenannten harten Wissenschaften gehen die meisten Forscher davon aus, dass Blindverfahren nicht notwendig sind. Das ist jedoch lediglich eine Annahme, die experimentell überprüft werden muss. Auf den meisten Gebieten der Wissenschaft veröffentlichen die Forscher nur einen kleinen Teil ihrer Daten, was ihnen allerlei Möglichkeiten der selektiven Präsentation ihrer Ergebnisse eröffnet. Auch wissenschaftliche Zeitschriften tragen zur Verfälschung des Bildes bei, da sie meist nicht bereit sind, negative Befunde zu veröffentlichen. Schwindel und Täuschung in der Wissenschaft werden selten durch den Peer-Review-Prozess entdeckt und fallen meist erst durch Denunziation auf. Skepsis gehört zu einem gesunden Wissenschaftsbetrieb, nur wird sie leider vielfach zweckentfremdet und gezielt als Waffe zur Verteidigung politisch oder ideologisch begründeter Anschauungen und zur Blockade von Vorschriften zum Umgang mit giftigen Stoffen eingesetzt. Produktverteidigungsfirmen helfen dem Big Business, Unsicherheiten aufzuspüren, um so politische Entscheidungen im Sinne ihrer Kunden zu beeinflussen. Eine Trennung von Fakten und Werten ist in der Praxis meist nicht möglich, so dass viele Wissenschaftler den zu erwartenden Nutzen ihrer Forschungen stark überbewerten müssen, um überhaupt an Forschungsgelder zu kommen. Gewiss ist die Objektivität der Wissenschaft ein hohes Ideal, aber die Chancen, uns diesem Ideal anzunähern, stehen besser, wenn wir einsehen, dass Wissenschaft von fehlbaren Menschen betrieben wird und keinen exklusiven Zugang zur Wahrheit darstellt.
Wissenschaft und Wissenschaften
Es sah so aus, als verschaffte uns die Naturwissenschaft ein simples und einheitliches Bild der Natur: Alles besteht aus kleinsten Materieteilchen, deren Eigenschaften und Verhalten von ewigen mathematischen Gesetzen bestimmt wird. Die Physiker arbeiten nach wie vor an einer Theorie von Allem und hoffen auf eine einheitliche Formel, die alles Existierende anhand der Eigenschaften der subatomaren Teilchen und der auf sie einwirkenden Kräfte erklärt. Alles ist letztlich auf Physik zurückführbar. Hier die konventionelle Sicht der Dinge noch einmal in Lee Smolins Worten: »Zwölf Teilchen und vier Kräfte – mehr brauchen wir nicht, um alles in der uns bekannten Welt zu erklären.« [599]
Dieser naive und überholte reduktionistische Glaube hat mit der Realität der Naturwissenschaften nichts zu tun. Physiologen reden nicht von subatomaren Teilchen, wenn sie den Blutdruck erklären wollen, sondern von der Pumptätigkeit des Herzens, der Elastizität der Blutgefäßwände und so weiter. Auch Sprachwissenschaftler haben es nicht mit den Bewegungen subatomarer Teilchen in den Luftmolekülen zu tun, durch die sich die Schallwellen des Gesprochenen fortpflanzen; sie studieren Wortmuster, grammatische Strukturen, Bedeutungsstrukturen. Wenn sich Botaniker mit der Evolution der Pflanzen befassen, stöbern sie nicht im Innern ihrer Atome, sondern vergleichen ihren Bau mit lebenden und ausgestorbenen Arten. Oder in den Worten des Physikers John Ziman:
Je komplexer die betrachteten Strukturen werden – von Elementarteilchen
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