Der Wissenschaftswahn
Realitäten sowie den Ursprung aller Dinge im Urknall zuständig fühlt. Das ist jedoch eine ganz willkürliche Einschätzung. Andere Fachgruppen könnten für ihr Gebiet einen ebenso hohen, wenn nicht höheren Status in Anspruch nehmen. Die Bewusstseinsforschung beispielsweise könnte sich für noch höher stehend erklären, denn schließlich findet Physik ja im menschlichen Geist statt und kommt nicht ohne menschliches Bewusstsein aus. Maxwells Gleichungen und die Superstring-Theorien befinden sich nicht als eigenständige Gegebenheiten irgendwo »da draußen«. Sie sind Konstruktionen des Geistes.
Gehirnforscher könnten sagen, ohne Neurophysiologie und die Chemie des Gehirns gäbe es kein menschliches Bewusstsein. Sprachforscher könnten argumentieren, ohne Sprache gäbe es keine Kultur; Sozialwissenschaftler könnten sagen, ohne Gesellschaft wäre von Physik gar nicht erst die Rede gewesen; und Ökonomen könnten darauf hinweisen, dass ohne eine funktionierende Wirtschaft niemand Physik betreiben könnte. Vergessen wir die Physiologen nicht, die wohl anmerken würden, dass ein Gehirn einfach Teil eines Körpers und vom koordinierten Funktionieren des Ganzen abhängig ist – Verdauung, Atmung, Blutkreislauf, Gliedmaßen, Sinnesorgane und so weiter. Dann die Embryologen mit dem Hinweis, dass ohne die embryonale Entwicklung gar nicht erst ein Körper mit einer Physiologie da wäre, von Physik ganz zu schweigen. Und die Genetiker könnten einwenden: Ohne Gene keine Embryologie.
Und weiter: Evolutionsforscher könnten auf die evolutionäre Herkunft des Menschen hinweisen; Ökologen würden die Interdependenz allen Lebens hervorheben; Botaniker könnten anmerken, dass der Mensch und alle Tiere letzten Endes von pflanzlicher Nahrung und damit von der Fotosynthese abhängig sind; hier käme dann, über die Solarphysik und Astronomie, die Physik wieder ins Spiel und könnte etwas über die Sonne sagen, ohne die es keine Fotosynthese geben kann. Ingenieure und Techniker würden darauf aufmerksam machen wollen, dass man ohne ihre Apparaturen keine genauen Messungen durchführen könnte und die Naturwissenschaften ohne moderne Kommunikationstechnik und Computer ziemlich hilflos dastehen würden. Und so weiter.
Niemand kann ein absolutes Primat für sich in Anspruch nehmen. Die Dinge sind miteinander vernetzt. Nichts bleibt, wie es ist, nichts ist von allem anderen abgekoppelt. Es besteht eine durchgängige Interdependenz aller Dinge auf allen Ebenen. Das erinnert sehr an die buddhistische Lehre vom »abhängigen Entstehen« oder »bedingten Entstehen«, der zufolge alle Dinge in ein Beziehungsgeflecht von Ursachen und Wirkungen eingebunden sind.
Die materialistische Philosophie und die Vormachtstellung der Physik sind ein Gespann. Auch die Interdependenz aller Dinge und der Pluralismus der Wissenschaften gehören zusammen. Die Wissenschaften benötigen vereinigende Prinzipien, doch die müssen nicht ausschließlich aus der Physik kommen.
Vereinigende Prinzipien
Neben den bekannten vereinigenden Prinzipien der Physik – zum Beispiel Kräfte, Felder und Energieströme – haben wir das Ordnungsprinzip der geschachtelten Hierarchien: Systeme oder Organismen oder Holons oder morphische Einheiten sind auf allen Betrachtungsebenen Ganzheiten, die aus Teilen bestehen, und diese Teile sind ihrerseits wieder Ganzheiten, die aus Teilen bestehen. Kristalle enthalten Moleküle, die Atome enthalten, die subatomare Teilchen enthalten. Galaxienhaufen enthalten Galaxien, die Sonnensysteme enthalten, die Planeten enthalten. Tiergesellschaften enthalten Tiere, die Organe enthalten, die Gewebe enthalten, die Zellen enthalten, die Moleküle enthalten, die Atome enthalten … (siehe Kapitel 1 ).
Die Hypothese der morphischen Resonanz bietet ein weiteres vereinigendes Prinzip: Alle selbstorganisierenden Systeme schöpfen aus einem kollektiven Gedächtnis, das durch frühere Systeme einer ähnlichen Art gegeben ist (siehe Kapitel 3 , 6 und 7 ).
Doch überall da, wo wir allgemeine Prinzipien konstatieren können, geht das Spezifische an den Dingen gerade in dieser Allgemeinheit unter. Sequoien, Seegräser und Sonnenblumen bestehen aus den gleichen chemischen Elementen, sie fangen durch Fotosynthese die Energie des Sonnenlichts ein und sind nach dem Prinzip der geschachtelten Hierarchie organisiert. Doch was ihre Ähnlichkeit ausmacht, erklärt nicht ihre Besonderheiten.
In allem Besonderen liegen Freiheit und Individualität. Eine
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