Der Wissenschaftswahn
Tomatenpflanzung kann aus Zehntausenden genetisch identischer Pflanzen bestehen; im Tomatenanbau werden Klone verwendet. Doch obwohl sie auf demselben Feld stehen, zur gleichen Zeit gepflanzt wurden und demselben Wetter ausgesetzt waren, unterscheidet sich jede Pflanze von ihren Nachbarn, und jedes Blatt an jeder Pflanze unterscheidet sich im Detail von jedem anderen Blatt. Sogar die beiden Hälften jedes Blattes sind leicht unterschiedlich in der Form und im Verlauf der Blattadern.
Je stärker die Wissenschaften verallgemeinern, desto weniger sind sie in der Lage, Besonderheiten zu erklären – und umgekehrt. Sie brauchen sowohl allgemeine Prinzipien als auch viele spezialisierte Ansätze, einfach weil ihre Forschungsobjekte von so großer Vielfalt sind – Quarks, Galaxien, Salzkristalle, Schwalbennester, Flechten, Sprachen.
Wissenschaft und Autorität
Uneinigkeit und Disput in der Wissenschaft werden als gefährlich und die Autorität untergrabend erlebt. Das bedeutet, dass man Meinungsverschiedenheiten besser irgendwo im Hintergrund austrägt. Wissenschaftler räumen nicht gern öffentlich ein, dass sie nicht immer ganz so objektiv sind, wie sie sich gern darstellen. Selbst in Thomas Kuhns Theorie der wissenschaftlichen Revolutionen als Paradigmenwechsel blieb das Image der etablierten Autorität unangetastet. Im Zuge einer wissenschaftlichen Revolution wird ein alter Konsens durch einen neuen ersetzt. Ideen, die einst revolutionär waren, werden neue Schulmeinung, in der Geologie beispielsweise die Kontinentaldrift, in der Physik die Quantentheorie. Diese Revolutionen sind von anderer Art als eine politische Revolution, die ein autokratisches System aushebelt und Demokratie an seine Stelle setzt. Sie haben eher etwas von Revolutionen, in denen eine alte Diktatur durch eine neue ersetzt wird.
In so gut wie allen anderen Sphären menschlichen Lebens gibt es nicht nur einen, sondern viele Standpunkte und Blickwinkel – viele Sprachen, viele Kulturen und Nationalitäten, viele Philosophien, Religionen, Sekten, politische Parteien, Geschäftszweige und Lebensformen. Nur in den Wissenschaften finden wir heute noch den monopolistischen Anspruch auf Universalität und absolute Autorität, den einst die katholische Kirche erhob. Katholisch bedeutet »alle betreffend« oder »allgemein«. Mit der 1517 einsetzenden Reformation büßte die katholische Kirche ihr Monopol ein, und inzwischen behaupten sich viele andere Kirchen und Ideologien neben ihr, darunter auch der Atheismus. Aber nach wie vor gibt es
eine
universale Wissenschaft.
Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, einer Zeit der ganz Europa spaltenden Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten, glänzten Wissenschaft und Vernunft als ein Weg zur Wahrheit, der über all das sektiererische Gezänk erhaben war. Aus dieser Haltung des Respekts gegenüber der Wissenschaft und der menschlichen Vernunft, verbunden mit einer gewissen Geringschätzung der Religionen und ihrer »Rechtgläubigkeit«, ging die Aufklärung hervor. Wie John Brooke in seinem Buch
Science and Religion
schreibt:
Wissenschaft war nicht nur wegen ihrer Erfolge hochgeachtet, sondern als Denkweise. Sie eröffnete die Möglichkeit der Aufklärung durch die Korrektur früherer Irrtümer, vor allem aber durch ihr Vermögen, sich gegen Aberglauben durchzusetzen … Wo jedoch Wissenschaft gegen Religion ausgespielt wurde, ging es oft nicht in erster Linie um die Schaffung intellektueller Freiheit zum Studium der Natur. Weniger die Naturphilosophen [Wissenschaftler] selbst, sondern meist Denker, denen es um gesellschaftliche oder politische Missstände ging, führten bei ihren Attacken gegen die Macht des Klerus die Wissenschaften als säkularisierende Kraft ins Feld. [607]
Die Wissenschaftler behaupteten von sich, sie betrachteten die Welt als objektive Beobachter und brächten deshalb die absolute Wahrheit ans Licht. [608] In diesem Schwarzweißbild des Szientismus ist Wissenschaft etwas von allem anderen Tun des Menschen grundsätzlich Verschiedenes. Allein die Wissenschaft vermag unanfechtbare Fakten zu konstatieren. [609] In diesem Idealbild erscheint der Wissenschaftler als einer, der von der Fehlbarkeit aller übrigen Menschen nicht berührt wird. Er hat unmittelbaren Zugang zur Wahrheit. Er ist objektiv wie sonst niemand. Der Mythos der körperlosen Erkenntnis und das Höhlengleichnis verstärken dieses Bild noch, und das hohe Ansehen der wissenschaftlichen Priesterschaft gibt dem
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