Der Wissenschaftswahn
Diskussionen oder Gespräche vertiefen ließen.
Wenn es gelänge, die kontroverse wissenschaftliche Diskussion im öffentlichen Raum, in den Universitäten und bei Kongressen zur Normalität zu machen, würde sich die wissenschaftliche Kultur ändern. Man würde es als normal empfinden, wenn Fragen offenbleiben und nicht eine Seite unbedingt recht haben muss, während die andere geringschätzig als »abweichend« eingestuft wird. In einer Demokratie finden wir es völlig in Ordnung, dass auf der politischen Ebene Meinungspluralismus herrscht und es keine dauerhaft von sicheren Mehrheiten getragene Partei gibt. Politische Fragen haben immer mindestens zwei Seiten. Wer in einer Demokratie an der Macht ist, kann die Argumente der Opposition nicht einfach vom Tisch wischen; damit würde er die Grundlagen der Demokratie aushöhlen und sich in Richtung eines totalitären Regimes bewegen.
Im politischen Leben sind Debatten begrenzt, vor allem deshalb, weil schließlich abgestimmt wird und eine Seite gewinnt, während die andere verliert. Ähnlich vor Gericht: Beide Seiten bringen ihre Argumente vor, aber in der Regel kommt es schließlich zu einer richterlichen Entscheidung für die eine und gegen die andere Seite. Das ist überall da ein gutes und richtiges Verfahren, wo Schiedssprüche notwendig und wünschenswert sind. Wenn jemand eines Verbrechens bezichtigt wird, muss das Gericht auf schuldig oder nicht schuldig im Sinne der Anklage erkennen und eine Strafe verhängen oder den Freispruch verkünden. Ein Parlament muss über Gesetzesvorlagen beschließen. Am Ende des Prozesses muss
ein
klares Gesetz stehen, sonst schafft man einen Sumpf rechtlicher Unsicherheiten. Man fährt entweder auf der rechten Straßenseite (wie in den Vereinigten Staaten, Frankreich oder Argentinien) oder auf der linken (wie in Großbritannien, Indien oder Japan). Es sprechen keine sachlichen Gründe für das eine oder das andere, aber wichtig ist die klare Entscheidung für eine der beiden Möglichkeiten.
Manche Entscheidungen, die im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Arbeit notwendig sind, haben ebenfalls solche praktischen Notwendigkeiten als Hintergrund: welche Forschungsfelder besonders gefördert werden sollen, wer den Zuschuss bekommt oder ob eine wissenschaftliche Arbeit von einer Fachzeitschrift nach dem Peer-Review zur Veröffentlichung angenommen wird oder nicht. Die Entscheidungsprozesse finden meist nicht öffentlich statt, sind aber häufig mit Diskussionen in den zuständigen Gremien verbunden.
Das alles sind Fälle, bei denen man irgendwie zu einem praktischen Beschluss kommen muss, aber in der eigentlichen wissenschaftlichen Forschung ist mit Beschlüssen nicht viel auszurichten, denn hier geht es ja um Dinge, die noch nicht bekannt oder noch ungewiss sind. Die Physiker sind nicht einer Meinung darüber, ob eine bestimmte zehndimensionale String-Theorie richtig ist und die übrigen oder auch die elfdimensionalen M-Theorien falsch sind. Hier existieren etliche Theorien nebeneinander, und alle haben ihre Fürsprecher. Wo gerade geforscht wird und noch Unsicherheit herrscht, ist nicht die kontroverse Diskussion der beste Ansatz, sondern das Gespräch. Im Gespräch tauscht man Ideen und Meinungen aus und sondiert den Gegenstand gemeinsam. Es geht nicht darum, dass eine Seite obsiegt. Natürlich finden in allen Bereichen des Lebens ebenso wie unter Wissenschaftlern ständig Dialog und Gespräch statt, aber wenn der öffentliche Dialog im Wissenschaftsbetrieb zur Regel würde, könnte das einer Kultur der Offenheit entscheidende Anstöße geben, mehr noch als die interne Debatte.
Am fruchtbarsten sind nach meiner Erfahrung Gespräche mit zwei oder drei Beteiligten. [612] Podiumsdiskussionen mit fünf bis zehn Teilnehmern, wie sie bei wissenschaftlichen Kongressen üblich sind, erreichen dagegen selten etwas. Bis alle ihre Eröffnungsworte gesprochen haben, ist die angesetzte Diskussionszeit meist schon fast um, und bei so vielen Teilnehmern ist es schier unmöglich, das Thema wirklich zuzuspitzen und auf den Punkt zu bringen. Zwei bis drei Gesprächsteilnehmer erreichen mehr, und das auch noch schneller.
Von anderen Kulturen lernen
Die größte Schwachstelle der Naturwissenschaften zeigt sich, wenn sie sich der subjektiven Seite der Realität annehmen – oder sie zu umgehen versuchen. Unsere Erfahrung – etwa vom Duft einer Rose oder vom Sound einer Band – wird dabei abgezogen, und was bleibt, sind duftlose molekulare
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