Der Wissenschaftswahn
ab den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts aufkam, weicht von Darwin insofern ab, als sie die Vererbung erworbener Merkmale verneint. Hier gilt, dass ein Organismus die Gene seiner Eltern erbt und sie auch so weitergibt, es sei denn, dass inzwischen eine Mutation, also eine zufällige Veränderung der Gene, eintritt. Der Molekularbiologe Jacques Monod brachte diese Theorie im programmatischen Titel seines Buchs
Zufall und Notwendigkeit
auf den Punkt.
Diese scheinbar so abstrakten Prinzipien sind die heimlichen Göttinnen des Neodarwinismus. Der Zufall ist Fortuna, die Glücksgöttin. Sie dreht das Glücksrad und verteilt auf diese Weise gutes Geschick und Missgeschick. Sie ist blind und erscheint vor allem in alten Darstellungen oft mit Schleier oder Augenbinde. Für Monod bildet »reiner Zufall, vollkommen frei, aber blind, die Wurzel des atemberaubenden Bauwerks der Evolution«. [86]
Shelley bezeichnete die Notwendigkeit als »all-genügende Kraft« und »Mutter der Welt«. Sie tritt auch als Schicksalsmacht auf, etwa in der Gestalt der Moiren und Parzen der griechischen und römischen Mythologie, die den Lebensfaden spinnen, zumessen und durchschneiden und den Sterblichen bei der Geburt ihr Schicksal zuteilen. Im Neodarwinismus wird der Lebensfaden sehr wörtlich genommen, nämlich als die DNA -Moleküle in ihren fadenähnlichen Chromosomen, die den Sterblichen bei ihrer Geburt ein Schicksal zuteilen.
Der Materialismus hat etwas von einem unbewussten Mutterkult. Schon etymologisch zeigt sich der Zusammenhang, da »Materie« das lateinische Wort für »Mutter« enthält,
Mater
. [87] Und der Mutterarchetypus nimmt viele Gestalten an, etwa als Mutter Natur, als Ökologie, sogar als Ökonomie, die uns auf der Basis von Angebot und Nachfrage wie eine Mutterbrust ernährt und erhält. (Der Wortbeginn »Öko« geht auf das griechische
oikos
zurück, das »Haus« oder »Haushalt« bedeutet.) Archetypen sind besonders machtvoll, wenn sie unbewusst bleiben; dann können sie nämlich nicht untersucht und erörtert werden.
Das Leben sprengt die Maschinenmetapher
Die Evolutionstheorie widerlegte das Argument des mechanischen Designs. Gott konnte Tiere und Pflanzen nicht als Mechanismen erschaffen haben, wenn sie sich durch spontane Abwandlung und natürliche Selektion Schritt für Schritt veränderten.
Lebewesen sind anders als Maschinen aus sich selbst schöpferisch. Pflanzen und Tiere verändern sich spontan, sie reagieren auf genetische Abwandlungen und stellen sich auf neue Herausforderungen aus der Umwelt ein. Bei manchen sind die Abwandlungen stärker als bei anderen, und hin und wieder erscheint etwas wirklich Neues. Lebendigen Organismen wohnt Kreativität inne oder bekundet sich durch sie.
Keine Maschine geht von bescheidenen Anfängen aus, um dann zu wachsen, neue Strukturen in sich auszubilden und sich dann schließlich zu vermehren. Pflanzen und Tiere tun das. Sie können sich außerdem regenerieren, wenn sie Schaden genommen haben. Sie als von ordinärer Physik und Chemie angetriebene Maschinen zu sehen zeugt von beachtlicher Glaubensfestigkeit; wenn man sie trotz allem, was dagegen spricht, weiterhin als Maschinen betrachtet, handelt es sich um ein Dogma.
Innerhalb der Biologie wurde die Maschinentheorie des Lebens im Verlauf des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts immer wieder von einer Schule des biologischen Denkens in Frage gestellt, die Vitalismus genannt wird. Vitalisten sagen, Organismen seien mehr als Maschinen, nämlich wahrhaft lebendig. Für sie existieren jenseits von Physik und Chemie Ordnungsprinzipien, die lebendigen Organismen die äußere Gestalt geben, ihr zielstrebiges Verhalten formen und für Instinkt und Intelligenz der Tiere verantwortlich sind. 1844 traf der Chemiker Justus von Liebig die für den vitalistischen Standpunkt typische Feststellung, Chemiker könnten zwar die in lebendigen Organismen vorkommenden organischen Verbindungen analysieren und synthetisieren, würden aber niemals in der Lage sein, ein Auge oder ein Blatt zu erzeugen. Außer den anerkannten physikalischen Kräften gebe es noch etwas anderes, das »die Elemente zu neuen Formen verbindet, so dass sie neue Eigenschaften bekommen – Formen und Eigenschaften, die ausschließlich im Organismus vorkommen«. [88]
In vieler Hinsicht war der Vitalismus das, was von der älteren Anschauung überlebte, die Seele sei das Ordnungsprinzip aller lebendigen Organismen. Außerdem stand der Vitalismus im Einklang
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