Der Wissenschaftswahn
gerade das, was den Organismus zum Organismus macht.
Ich musste mich bereits als Student in Cambridge mit der Beschränktheit des Reduktionismus auseinandersetzen. Im letzten Jahr des Biochemiekurses machten wir ein Experiment, bei dem es um Enzyme in der Leber von Ratten ging. Dazu musste erst einmal eine über dem Ausguss »geopfert« und mittels einer Guillotine geköpft werden, dann schnitten wir sie auf und entnahmen die Leber. Die Leber wurde im Mixer püriert und anschließend zentrifugiert, um die erwünschten von den unerwünschten Fraktionen der Zellmasse zu trennen. Der wässrige Anteil musste dann weiter gereinigt werden, um die gewünschten Enzyme zu gewinnen, die wir dann in Reagenzgläser füllten. Bestimmte Chemikalien wurden hinzugefügt, und wir bestimmten die Geschwindigkeit der chemischen Reaktionen. Wir lernten etwas über Enzyme, aber nichts über das Leben und Verhalten von Ratten. Auf dem Flur des biochemischen Instituts offenbarte sich das große Problem in Gestalt einer Schautafel, auf der das menschliche Stoffwechselgeschehen in seinen chemischen Einzelheiten dargestellt war. Darüber hatte jemand in großen blauen Lettern geschrieben: » ERKENNE DICH SELBST .«
Wenn man Lebewesen anhand ihrer chemischen Bestandteile erklären möchte, ist das so, als würde man einen Computer zermahlen, dann seine chemischen Bestandteile wie Kupfer, Germanium und Silizium ermitteln, um dann sagen zu können, was ein Computer ist. Sicher, man erfährt auf diese Weise ein wenig über den Computer, nämlich woraus er besteht, aber im Prozess der Reduktion gehen sein Bau und die programmierten Arbeitsprozesse verloren. Die chemische Analyse wird niemals Aufschluss über die Verschaltungen erbringen, und selbst wenn man mathematische Modelle aller möglichen Wechselwirkungen der elementaren Bestandteile aufstellt – was ein Computer tut und weshalb, wird sich dabei nicht offenbaren.
Mechanisten treiben also den Pflanzen und Tieren erst einmal ihre Lebendigkeit und Zielorientierung aus, um sie dann als Molekulargebilde neu zu erfinden. So entsteht dann zum Beispiel ein molekularer Vitalismus, der jetzt den Genen Absichten und Kräfte zuschreibt, die über die bloße Chemie der DNA weit hinausgehen. Gene werden molekulare Entelechien. Richard Dawkins stattet sie in seinem Buch
The Selfish Gene
(Das egoistische Gen)
mit Lebendigkeit und Intelligenz aus. Da sind dann die Gene und nicht mehr Gott die Designer der Lebensmaschinerie:
Wir sind Überlebensmaschinen, aber »wir« bezieht sich nicht allein auf Menschen, sondern umfasst alles, Tiere, Pflanzen, Bakterien, Viren … Wir alle sind Überlebensmaschinen für eine bestimmte Sorte von Replikatoren, nämlich Moleküle, die DNA genannt werden. Nun gibt es ganz verschiedene Arten, sich in der Welt durchzuschlagen, und die Replikatoren haben sich einen breit gefächerten Maschinenpark geschaffen, um alle diese Möglichkeiten auszunutzen. Ein Affe ist eine Maschine, die auf Bäumen für das Überleben der Gene sorgt; ein Fisch ist eine Maschine, die im Wasser für das Überleben der Gene sorgt. [90]
»Die DNA geht ihre heimlichen Wege«, sagt Dawkins. DNA -Moleküle sind nach seiner Auffassung nicht nur intelligent, sondern auch noch egoistisch und skrupellos und rivalisieren wie die »erfolgreichsten Gangster von Chicago«. Sie »erschaffen Formen«, »gestalten Materie«, betreiben ein »evolutionäres Wettrüsten« – und haben dabei ihre eigene »Unsterblichkeit« im Auge. Solche Gene kann man kaum noch als Moleküle bezeichnen:
Und jetzt schwärmen sie in riesigen Kolonien, geborgen und gegen die Außenwelt abgeschirmt in gigantischen, turmhohen Robotern, mit denen sie auf gewundenen, sehr indirekten Wegen kommunizieren und die sie mittels Fernbedienung steuern. Sie sind in Ihnen und mir, sie haben uns an Körper und Geist erschaffen, ihre Erhaltung ist letztlich der Grund für unser Vorhandensein … Sie heißen Gene, und wir sind ihre Überlebensmaschinen. [91]
Ihre überredende Kraft bezieht diese Darstellung aus der vermenschlichenden Sprache und ihrer Comic-Bilderwelt. Dawkins räumt ein, dass die Vorstellung dieser egoistischen Gene mehr von Science-Fiction als von Science hat, [92] aber er findet doch, es sei eine »kraftvolle und aufschlussreiche« Metapher. [93]
Eine sehr populär gewordene vitalistische Metapher im Rahmen des mechanistischen Weltbilds ist das »genetische Programm«. Genetische Programme werden bewusst in die Nähe von
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