Der Wissenschaftswahn
mit dem Bild, das die Romantik von der lebendigen Natur hatte. Manche Vitalisten, zum Beispiel der Embryologe Hans Driesch ( 1867 –1941 ), griffen ganz bewusst auf die Seele als formgebendes Prinzip zurück, um diese Kontinuität des Denkens hervorzuheben. Driesch glaubte an ein immaterielles Ordnungsprinzip, das Pflanzen und Tieren ihre Gestalt und Bestimmung gab. Er nannte es in Entlehnung eines von Aristoteles für die in der Seele selbst liegende Zielsetzung verwendeten Begriffs
Entelechie
(
en
= in;
telos
= Ziel, Zweck). Driesch glaubte, an Embryonen etwas Zielgerichtetes erkennen zu können: Wenn sie in ihrer Entwicklung gestört werden, erreichen sie trotzdem irgendwie ihre charakteristische Gestalt. Wenn man zum Beispiel die Embryonen von Seeigeln halbiert, entwickelt sich aus jeder Hälfte ein zwar kleinerer, aber vollständiger Seeigel und kein halber Seeigel. Die Entelechie wirkt als eine Art Anziehungspunkt oder »Attraktor«, der Embryonen und sogar Teile von Embryonen zur vollständig ausgereiften Form des Lebewesens hinführt.
Der Vitalismus war und ist für die mechanistische Biologie der Gipfel der Ketzerei. Der Biologe T. H. Huxley formulierte die orthodoxe Lehrmeinung der Biologie bereits 1867 sehr prägnant:
Zoologische Physiologie ist die Lehre von den Funktionen und Aktionen der Tiere. Sie betrachtet den Tierkörper als eine von verschiedenartigen Kräften angetriebene Maschine, die dann eine gewisse, anhand der bekannten Naturkräfte darstellbare Arbeitsleistung erbringt. Letzten Endes geht es der Physiologie darum, die Fakten der Morphologie einerseits und die der Wechselwirkungen mit dem Umfeld andererseits aus den Gesetzen der molekularen Kräfte abzuleiten. [89]
Hier nimmt Huxley bereits die spektakuläre Entwicklung der Molekularbiologie in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vorweg, diesen größten je unternommenen Vorstoß zur Reduzierung des Lebens auf physikalische und chemische Mechanismen. Francis Crick, Mitinhaber eines Nobelpreises für die Entschlüsselung der DNA , machte diesen Plan in seinem 1966 erschienenen Buch
Of Molecules and Men
(Von Molekülen und Menschen)
sehr deutlich. Er zog über den Vitalismus her und bekräftigte seinen Glauben an das »Endziel der modernen Strömung in der Biologie«, nämlich »die
gesamte
Biologie physikalisch und chemisch zu erklären«.
Der mechanistische Ansatz ist seiner Natur nach reduktionistisch: Er möchte Ganzheiten anhand ihrer Teile erklären. Das macht den hohen Stellenwert der Molekularbiologie innerhalb der Biowissenschaften aus. Moleküle gehören zu den kleinsten Bestandteilen lebender Organismen, sie sind das Forschungsgebiet, auf dem die Biologie in Chemie übergeht. Deshalb hat die Molekularbiologie bei dem Projekt, die Phänomene des Lebens anhand der »Gesetze der molekularen Kräfte« zu erklären, die Führungsrolle inne. Sollte es den Biologen gelingen, organisches Leben auf die molekulare Ebene zu reduzieren, können sie die Stafette an die Chemiker und Physiker weitergeben, die dann die Eigenschaften der Moleküle auf die der Atome und subatomaren Teilchen zurückführen werden.
Im neunzehnten Jahrhundert glaubten die meisten Naturwissenschaftler noch, Atome seien die feste, beständige, nicht mehr reduzierbare Basis der Materie. Im zwanzigsten Jahrhundert zeigte sich dann, dass auch Atome aus Teilen bestehen – ein Kern in der Mitte und ringsum Elektronen in ihren Orbitalschalen. Der Kern besteht selbst wieder aus Protonen und Neutronen und diese abermals aus noch kleineren Teilchen, den Quarks. Wenn man Kerne in Teilchenbeschleunigern wie CERN bei Genf zertrümmert, zeigen sich weitere subatomare Teilchen in großer Zahl. Hunderte sind inzwischen identifiziert worden, und manche Physiker meinen, mit noch größeren Beschleunigern werde man noch weitere Teilchen finden.
Das Atom ist bodenlos geworden, und dieser Zoo von teilweise extrem kurzlebigen Teilchen sieht nicht danach aus, als könnte man mit ihm die Form einer Orchideenblüte, den Sprung eines Lachses oder die Flugbewegungen eines Starenschwarms erklären. Dem Reduktionismus fehlt jetzt einfach die solide atomare Basis für die Erklärung aller Phänomene des Lebens. Und davon einmal abgesehen: Organismen sind – unabhängig von der Frage, wie viele subatomare Teilchen es gibt – Ganzheiten, und wenn man sie auf ihre Bestandteile reduziert, muss man sie töten und ihre chemische Zusammensetzung ermitteln. Dabei zerstört man aber
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