Der Wissenschaftswahn
aufgeweichten Lehm auszukleiden. Danach baut sie aus weiteren Lehmkugeln einen großen Trichter über dem Eingang auf (Abbildung 5 A). Der Sinn dieses Trichters scheint darin zu bestehen, parasitierende Wespen fernzuhalten, die sich an der glatten Innenwandung des Trichters nicht halten können und wieder herausfallen.
Abbildung 5A: Das mit Futter versehene Nest der Lehmwespe
Paralastor
. 5B: Reparaturen am Trichter. Oben der Bau eines neuen Trichters nach dessen Entfernung durch den Experimentator. Unten der Doppeltrichter, der als Reaktion auf die dargestellte Bruchstelle entstand (nach Barnett).
Nach Fertigstellung des Trichters legt die Wespe ein Ei in das Sackende des Nests und legt nun einen Vorrat an Raupen an, die sie in Zellen von etwa zwei Zentimetern Länge einmauert. Die letzte Zelle wird häufig leer verschlossen, vermutlich ebenfalls als Schutz vor Parasiten. Zuletzt wird die Neströhre mit einem Lehmstopfen verschlossen, und dann zerstört die Wespe den sorgsam aufgebauten Trichter, so dass nur noch ein paar verstreute Bruchstücke zu sehen sind.
Dies ist eine Sequenz festgelegter Aktionsmuster. Der Endpunkt jedes Musters wirkt als Auslösereiz für das nächste. Wie bei der embryonalen Entwicklung kann der Endpunkt auf verschiedenen Wegen erreicht werden, wenn der normale Ablauf irgendwie gestört wird. Dieses allgemeine Prinzip wird deutlich an der Art und Weise, wie die Wespe auf Beschädigungen des Trichters reagiert, an dem sie gerade baut. Zahlreiche Versuche wurden in freier Wildbahn mit diesen Wespen durchgeführt. Zunächst brach man fast fertige Trichter ganz oder teilweise ab, während die Wespe gerade frischen Lehm holte. Wie viel von einem Trichter auch fehlen mochte, die Wespe setzte sofort ihre Arbeit fort und baute ihn wieder auf: Er wurde regeneriert. Brach man ihn erneut ab, so wurde er abermals wiederaufgebaut. In einem Fall geschah dies siebenmal, und die Wespe zeigte keinerlei Erlahmen ihrer Entschlossenheit, das Bauwerk fertigzustellen. [260]
Dann stahlen die Forscher fast fertige Trichter von einigen Nestern und transplantierten sie auf andere Niströhren, bei denen der Trichterbau gerade begonnen wurde. Wenn die Wespen mit ihren Lehmkugeln zurückkamen, untersuchten sie nur kurz die plötzlich dastehenden Fertigtrichter und bauten sie dann zu Ende, als wären es ihre eigenen.
Als Nächstes häuften die Wissenschaftler Sand um Trichter auf, bei denen gerade der aufragende Teil der Röhre in Arbeit war. Dieser Teil ist normalerweise etwa zweieinhalb Zentimeter lang, bevor die Wespe die Krümmung ansetzt, an der die Trichterglocke hängen soll. Wenn diese Höhe fast erreicht war, wurde der Röhrenstumpf »versenkt«, bis nur noch drei Millimeter aus dem Sand herausragten. Die Wespe baute dann weiter daran, bis er wieder eine Länge von zweieinhalb Zentimetern über dem Boden erreicht hatte.
Schließlich wurden in verschiedenen Baustadien Löcher in den Trichter gebrochen. Wenn dies in einem frühen Stadium geschah, entdeckten die Wespen den Schaden sofort und reparierten ihn mit Lehmstreifen.
Zu einer besonders interessanten Reaktion kam es, als man an dem fertiggestellten Trichter an der Oberseite des gekrümmten Röhrenteils ein kreisrundes Loch brach – ein Schaden, der vermutlich unter natürlichen Umständen kaum je vorkommt. Die Wespe bemerkte das Loch nach ihrer Rückkehr bald, untersuchte es sorgfältig von innen und außen, konnte es jedoch nicht wie gewohnt von innen her reparieren, weil sie an dieser Stelle keinen Halt fand. Nach einer gewissen Zeit der Unschlüssigkeit fing die Wespe an, von außen her neuen Lehm aufzutragen. Dies entsprach der Situation beim Beginn des Trichterbaus über dem runden Eingang der Niströhre, oder anders gesagt: Das runde Loch im Trichterhals wirkte als Zeichenreiz für »Trichterbau«, und so entstand an dieser Stelle ein kompletter neuer Trichter (Abbildung 5 B).
Zielorientierung ermöglicht es den Tieren, ihr Verhaltensziel auch bei unerwarteten Störungen zu erreichen – genauso wie Embryonen Beschädigungen durch Regulation ausgleichen können oder wie Pflanzen und Tiere verlorene Teile durch Regeneration ersetzen können.
Attraktoren
In vielen Modellen, die Veränderungen beschreiben, wird der End- oder Zielpunkt in Analogie zur Schwerkraft als Attraktor gedeutet, wenn auch in der Regel stillschweigend. So veranschaulicht man beispielsweise chemische Prozesse anhand sogenannter Potenzialtöpfe (Abbildung 6 ). Ein System
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