Der Wissenschaftswahn
lebendiger Organismen nicht erklären, sondern schon voraussetzen. Lebewesen existieren, weil bereits ihre Vorfahren »zweckmäßig« waren, was daran zu erkennen ist, dass sie wachsen, überleben und sich vermehren konnten. Was ihre diesbezüglichen Chancen verbesserte, wurde von der natürlichen Auslese begünstigt, aber diese grundlegende Zielorientierung war bereits in den ersten lebenden Zellen gegenwärtig.
Descartes und viele andere Wissenschaftler sprachen dem Menschen noch eine Zielorientierung zu, während diese der gesamten übrigen Natur fehlen sollte. Menschen besaßen über die stoffliche Natur hinaus eine rationale Seele, und sie allein waren bewusst und zu zielstrebigem Verhalten fähig. Menschen waren die Ausnahme. Dem stimmen jedoch die Materialisten nicht zu. Für sie ist der Mensch nicht grundsätzlich von der übrigen Natur verschieden, eine immaterielle menschliche Seele gibt es nicht. Es gibt nur mechanisch funktionierende Gehirne.
Aber Menschen haben Ziele, Pflanzen und Tiere verhalten sich zielorientiert. So tauchen Zweck und Ziel also doch immer wieder auf, nur werden sie in neue Vokabeln wie »Teleonomie« verpackt oder erscheinen als »egoistische Gene« mit, wie Richard Dawkins meint, einem unwiderstehlichen Drang, sich durch Vermehrung fortzusetzen: »Sie sind in Ihnen und mir, sie haben uns an Körper und Geist erschaffen, ihre Erhaltung ist letztlich der Grund für unser Vorhandensein.« [256]
Die meisten Biologen sind zwischen der praktischen Anerkennung der Teleologie oder Teleonomie einerseits und ihrer Ablehnung zugunsten einer mechanistischen Ideologie andererseits hin- und hergerissen. Fast überall in der modernen Biologie geht dieses Thema in einem Wust aus teleologischer Ausdrucksweise und pflichtschuldiger Leugnung unter, verschlimmert noch durch die Verwechslung zweier unterschiedlicher Bedeutungen von »Ziel und Zweck«: einerseits im Hinblick auf die Wachstums-, Selbsterhaltungs- und Vermehrungsfähigkeit der Lebewesen, die in ihrem Lebenszyklus normalerweise vererbte, also von den Vorfahren übernommene Muster wiederholen; und zweitens im Hinblick auf die Frage, ob der Evolutionsprozess insgesamt an Zielen oder Zwecken orientiert ist. Das sind unterschiedliche Fragen, und ich möchte die Möglichkeit evolutionärer Zwecke am Schluss dieses Kapitels wieder aufgreifen.
Nicht nur bei Lebewesen zielt das Verhalten auf etwas ab. Auch das Verhalten eines fallenden Steins besitzt eine Richtung: Er wird zum Erdboden hin gezogen und kommt dort zur Ruhe. Ein Stück Eisen wird von einem Magneten angezogen und bewegt sich in seine Richtung, bis es ihm so nahe wie möglich gekommen ist. Anziehung durch Schwerkraft, Magnetismus oder Elektrizität rufen in beschränktem Maße gerichtete Aktivität hervor. Lebewesen gehen noch darüber hinaus.
Der Biologe Edward S. Russell fasste die allgemeinen Züge zielorientierten Verhaltens bei lebenden Organismen 1945 in seinem Buch
The Directiveness of Organic Activities
(Lenkende Kräfte des Organischen)
zusammen:
Wenn das Ziel erreicht ist, hört die Aktivität auf. Das Ziel ist in der Regel der Endpunkt der Aktion.
Solange das Ziel nicht erreicht ist, geht die Aktivität in den meisten Fällen weiter.
Die Aktivität kann abgewandelt werden: Lässt sich das Ziel nicht auf die gewohnte Art erreichen, werden die Bemühungen auf eine andere Weise fortgesetzt.
Ein bestimmtes Ziel kann von verschiedenen Ansatzpunkten her erreicht werden.
Äußere Umstände wirken sich auf die zielgerichtete Aktivität aus, bestimmen sie aber nicht.
Ein Beispiel für den Fall, dass ein Ziel von verschiedenen Ausgangspunkten her erreicht werden kann, ist die Entwicklung eines Libellen-Eis nach seiner partiellen Zerstörung (Abbildung 3 ). Normalerweise geht aus dem hinteren Teil des Eis der untere Teil des Embryos hervor, aber wenn der vordere Teil des Eis beispielsweise durch Abschnürung zerstört wird, entsteht trotzdem ein vollständiger, wenn auch kleinerer Embryo. Es gibt auch den Fall, dass ein vollständiger Organismus durch Regeneration aus einem Teil entstehen kann, denken Sie etwa daran, dass aus jedem abgeschnittenen Weidenzweig wieder ein vollständiger Baum werden kann. Wenn man einen Plattwurm in Stücke schneidet, kann sich jedes Stück zu einem Plattwurm regenerieren.
Abbildung 3: Links ein normaler Embryo der Libellenart
Platycnemis pennipes
. Rechts ein kleiner, aber vollständiger Embryo aus dem hinteren Teil des gleich nach der Ablage in
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