Der Wissenschaftswahn
wird in Richtung seines Energieminimums, das heißt zum Grund des Topfs, hingezogen:
Abbildung 6: Diagrammdarstellung eines instabilen Systems (A), eines stabilen Systems am Grund eines Potenzialtopfs (B) und eines teilstabilen Systems (C). Zugrunde gelegt ist eine Gravitationsmetaphorik: Die Kugel rollt immer zum tiefstmöglichen Punkt, dem Punkt der geringsten potenziellen Energie.
In mathematischen Dynamik-Modellen sind End- oder Zielpunkte als Attraktoren dargestellt. Attraktoren liegen in »Attraktorbecken«. Das ist wieder sehr metaphorisch, wir stellen uns ein Becken vor, in das man kleine Kugeln wirft. Sie rollen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten hin und her oder an der Wandung entlang, aber alle enden irgendwann an derselben Stelle, nämlich am Grund des Beckens, dem Attraktor. Die Metapher ist so plausibel, weil sie bei einem richtigen Becken und richtigen Kugeln tatsächlich zutrifft: Der tiefste Punkt des Beckens ist ein Gravitationsattraktor.
Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts beschrieb der Biologe Conrad Waddington den zielgerichteten Charakter der embryonalen Entwicklung anhand des Bildes von Attraktoren in einer »epigenetischen Landschaft« (Abbildung 7 ). Jeder Zielpunkt in dieser Landschaft steht für ein Organ, etwa ein Auge oder eine Niere, zu dem sich ein bestimmter Teil des Embryos hin entwickelt. Die Täler repräsentieren den normalen Entwicklungsablauf, und dieser selbst wird als Kugeln veranschaulicht, die entlang der »ausgetretenen« Entwicklungswege rollen. Waddington bezeichnete diese Täler oder Rinnen als
Chreoden
– darin stecken die griechischen Wörter für »notwendig« und »Weg«. Dieses Modell hat den Vorteil, dass es sinnfällig erklären kann, wie sich normale Organe auch dann bilden können, wenn die Entwicklung durch irgendetwas gestört wird: Wenn die Kugel aus der Bahn gelenkt wird und ein Stück die Böschung ihrer Chreode hinaufrollt, nimmt sie trotzdem weiterhin den Weg in Richtung ihres Attraktors. Waddington sah diese epigenetischen Landschaften als formgebende oder eben morphogenetische Felder.
Abbildung 7: Bildliche Darstellung einer tief »eingefahrenen« Chreode (A) und einer anfänglich noch weniger stark ausgeprägten Chreode (B). Eine Kugel würde das Tal entlang zu seinem Endpunkt, dem Attraktor, rollen.
Auch im epigenetischen Modell ist die Wirkung des Attraktors der Gravitation analog dargestellt. Ein sich entwickelndes System wird von seinem Ziel- oder Endpunkt angezogen, folgt also nicht nur einem aus der Vergangenheit kommenden Schub, sondern auch einem Zug aus der Zukunft.
Der französische Mathematiker René Thom entwickelte in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Waddingtons Ideen anhand dynamischer topologischer Modelle weiter. Waddingtons Modelle konnten als einfache Diagramme dargestellt werden, während Thoms wesentlich anspruchsvoller waren. Sie beruhten auf einem »Differenztialtopologie« genannten mathematischen Verfahren, in dem es um die Berechnung glatter Oberflächen und ihrer Überführung in Körper mit unterschiedlichen räumlichen Eigenschaften geht. Außerdem waren seine Modelle dynamisch, erfassten also Veränderungen in der Zeit, und waren zudem im vieldimensionalen Phasenraum angesiedelt. Die technischen Einzelheiten dieses Ansatzes sind selbst für viele Mathematiker schwer zu durchschauen, aber Thom nutzte sie, um Entwicklungsprozesse anhand von Attraktoren und morphogenetischen Feldern darzustellen, die eine in der Entwicklung begriffene Struktur entlang der Chreoden in Richtung ihres Entwicklungsziels ziehen, sei es der Bau eines Auges oder eines Blattes. [261] Die Attraktoren in diesen Feldern erklären auch, wie verlorene oder beschädigte Teile wiederhergestellt werden können.
Thom entwickelte auch für Tierverhaltensweisen solche mathematischen Modelle. Als Beispiel kann die »Beutefang-Chreode« dienen: Ein Raubtier sucht, findet und fängt seine Beute, um sie schließlich – als »Endhandlung«, wie es in der Sprache der Verhaltensforschung heißt – zu verzehren. [262]
Sind Attraktoren in morphogenetischen Feldern einfach mathematische Abstraktionen? Oder üben morphogenetische Felder wirklich Einflüsse aus, die sich als Zug in Richtung eines Ziels bemerkbar machen? Gibt es in der Natur noch andere Einflüsse als die bekannten physikalischen Kräfte und Energien? Ich glaube, dass es sie gibt und dass sie etwas mit der im 4 . Kapitel besprochenen Wirkrichtung der Einflüsse
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