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Der Wissenschaftswahn

Der Wissenschaftswahn

Titel: Der Wissenschaftswahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rupert Sheldrake
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der Mitte abgeschnürten Eis (nach Weiss).

    Sogar einzelne Zellen können von erstaunlicher Regenerationsfähigkeit sein. Bei der grünen Schirmalge
Acetabularia
handelt es sich um einen bis zu fünf Zentimeter langen einzelligen Organismus mit drei Hauptteilen: dem wurzelähnlichen Rhizoid, mit dem die Alge an Gestein haftet, dem Stiel und einem Schirm von etwa einem Zentimeter Durchmesser (Abbildung 4 ). Der Kern dieser sehr großen Zelle sitzt im Rhizoid. Während des Wachstums der Zelle streckt sich der Stiel und bildet eine Reihe von Haarwirbeln, die später abfallen, um schließlich den Hut oder Schirm hervorzubringen. Schneidet man unterhalb des Schirms ein Stück aus dem Stiel heraus, sprießt dieser in die Höhe und bildet wieder Haarwirbel, die abfallen, bis schließlich ein neuer Hut entsteht – ganz wie beim normalen Wachstum der Zelle. Man kann die Kappe immer wieder abschneiden, und sie bildet sich immer wieder neu. [257]

    Abbildung 4: Regeneration bei der Schirmalge
Acetabularia mediterranea,
einem ungewöhnlich großen einzelligen Organismus von bis zu fünf Zentimetern Länge. Am oberen Ende des Stiels sitzt ein grüner Schirm, am unteren ist es mit einem wurzelähnlichen Rhizoid verankert. Im unteren Teil sitzt auch der große Zellkern (hier als schwarzes Oval dargestellt). Schneidet man den Stiel gleich oberhalb des Fußteils ab, bildet er einen neuen Stiel und Schirm aus (ganz rechts). Schneidet man im oberen Teil ein Stück aus dem Stiel heraus, wächst der Stiel und bildet einen neuen Schirm aus, obwohl in diesem Teil kein Zellkern vorhanden ist.

    Man geht normalerweise davon aus, dass die Ausbildung der äußeren Form irgendwie in den Genen »programmiert« ist, als wäre der Zellkern, der die Gene enthält, so etwas wie das Gehirn der Zelle. An der Schirmalge wird jedoch erkennbar, dass Morphogenese auch ohne Gene möglich ist. Schneidet man das Rhizoid mit dem Kern ab, kann die Alge trotzdem monatelang weiterleben, und wenn man den Schirm abschneidet, bildet sich ein neuer. Und ganz erstaunlich: Schneidet man ein Stück aus dem Stiel heraus, heilt zunächst der Schnitt, und dann beginnt am oberen Ende, wo der Schirm saß, der Stiel wieder zu wachsen und bildet schließlich einen neuen Schirm aus. [258] Morphogenese ist zielgerichtet und strebt, selbst wenn keine Gene beteiligt sind, zu einem morphischen Attraktor hin.

Tierverhalten
    Tierisches Verhalten ist wie die Morphogenese zielorientiert. Die Instinkte der Tiere werden gleichsam zu Attraktoren hingezogen, die dem Wachstum, dem Überleben und der Vermehrung dienen, individuell und in der Gemeinschaft, zum Beispiel in einem Bienenstaat. Wenn Tierverhalten zielgerichtet ist, muss damit nicht unbedingt ein Zielbewusstsein verbunden sein – so wenig, wie das zielgerichtete Wachstum bei der Schirmalge von Bewusstsein begleitet ist.
    Instinktverhalten besteht häufig aus mehr oder weniger stereotypen Verhaltensabläufen, aus festgelegten Aktionsmustern. Der Endpunkt eines solchen Aktionsmusters kann der Beginn des nächsten sein. Den Endpunkt einer Kette von fixierten Aktionsmustern nennen wir End- oder Abschlusshandlung, zum Beispiel das Schlucken der Nahrung.
    Tiere besitzen, ähnlich wie es bei der Ausbildung der äußeren Form ist, die in ihnen angelegte Fähigkeit, ihr Verhalten so abzuwandeln, dass der Endpunkt trotz einer Störung erreicht wird. Den Verhaltensforschern ist aufgefallen, dass viele Aktionsmuster eine »fixierte Komponente« und eine relativ flexible »Orientierungskomponente« aufweisen. Eine Graugans beispielsweise holt ein aus dem Nest gerolltes Ei mit dem Schnabel zurück: Sie hält den Schnabel hinter das Ei und rollt es zu sich heran ins Nest zurück. Das bei diesem Rollen auftretende »Eiern« gleicht die Gans geschickt mit kleinen Seitwärtsbewegungen des Schnabels aus. [259] Bei diesen Ausgleichsbewegungen muss die Gans sehr flexibel reagieren, um das angestrebte Ziel zu erreichen.
    Die Übereinstimmungen zwischen zielgerichtetem Verhalten und Morphogenese werden beim Nestbau besonders deutlich. Weibliche Lehmwespen einer in Australien lebenden
Paralastor
-Art bauen ein Erdnest, indem sie zuerst eine Röhre von etwa acht Zentimetern Länge und sechs Millimetern Durchmesser in eine Böschung aus harter, sandiger Erde graben. Dann weicht die Wespe in der Nähe des Nests etwas Lehm mit Wasser aus ihrem Kropf auf und rollt ihn mit den Mundwerkzeugen zu einer Kugel, die sie in die Röhre trägt, um sie mit dem

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