Der Wissenschaftswahn
Einsatzes der Bauarbeiter und ihrer Maschinen – sie bilden zusammen die bewegende Ursache. Wie dabei zu verfahren ist, gibt der Plan des Architekten vor, der folglich die Formursache darstellt. Und all das geschieht, weil da jemand ist, der Geld ausgibt, um in diesem Haus leben zu können; das ist der Zweck oder die finale Ursache. Alle vier Ursachen sind nötig: Ohne die Materialien oder die Energie der Bauarbeiter oder den Bauplan oder den Beweggrund für den Bau wird kein Haus entstehen.
Und in lebenden Organismen ist es so, dass die Seele sowohl den Plan als auch den Zweck liefert.
Einer der charakteristischen Züge der mechanistischen Revolution im siebzehnten Jahrhundert war die Verneinung der Seele mitsamt der Formursache und der finalen Ursache. Alles musste jetzt mechanistisch anhand von materiellen und bewegenden Ursachen erklärt werden. Und dann konnte es nur so sein, dass die endgültige Gestalt eines Organismus bereits als materielle Struktur im befruchteten Ei vorliegen musste.
Präformation und Neubildung
Vom siebzehnten bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war die Biologie in zwei Hauptlager geteilt, Mechanisten und Vitalisten. Beide mussten die Vererbung erklären. Die Vitalisten setzten die aristotelische Tradition fort, nach der ein Organismus durch die Seele oder durch immaterielle Vitalkräfte geformt wird. Sie wussten jedoch nicht anzugeben, wie diese immateriellen Kräfte wirkten oder wie ihr Zusammenwirken mit dem Körper aussah.
Die Mechanisten zogen eine materialistische Deutung vor, stießen jedoch ebenfalls bald auf ernste Schwierigkeiten. Es fing damit an, dass sie vermuteten, Pflanzen und Tiere seien bereits in Miniaturform in befruchteten Eizellen vorhanden, seien also vorgeformt oder
präformiert
. Entwicklung war dann einfach das proportionale Wachstum des bereits vollständigen, nur eben sehr kleinen Körpers. Manche Anhänger dieser Schule sahen die Eizelle als den Ursprung des winzigen Organismus, die meisten jedoch die Samenzelle – und dafür behaupteten sie sogar Beweise zu haben. Einer erkannte unter dem Mikroskop Miniaturpferde in Pferdespermien und kleine Affen mit großen Ohren in Affenspermien. Es wurden auch kleine Menschen, Homunkuli, in menschlichen Samenzellen erkannt (Abbildung 9 ). [282]
Abbildung 9: Eine menschliche Samenzelle, die einen Homunkulus enthält, Anfang des achtzehnten Jahrhunderts von einem Wissenschaftler nachgezeichnet, der ihn so unter dem Mikroskop gesehen haben wollte (nach Cole).
Der Präformationsgedanke war leicht zu erfassen und schien durch Mikroskopiebefunde gedeckt zu sein, stieß jedoch auf unlösbare Probleme, was die Generationenfolge anging. Die Kollegen aus dem vitalistischen Lager machten das anhand von Beispielen deutlich: Wenn ein Kaninchen die ausgewachsene Form eines Minikaninchens in der befruchteten Eizelle ist, muss dieses Minikaninchen bereits noch winzigere Kaninchen in seinen Keimzellen haben – und so fort. [283]
So wurde die Präformationstheorie schließlich gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts verworfen. Bei der genauen Betrachtung heranwachsender Embryonen konnte den Forschern nicht verborgen bleiben, dass immer wieder neue Strukturen entstanden, die vorher nicht da waren. Beispielsweise der Darm, der sich durch Einfaltung einer bauchseitigen Gewebeschicht bildet, zunächst als eine Art Rinne, die sich dann im weiteren Verlauf zur Röhre schließt. [284] Bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wurde die Beweislast überwältigend: Entwicklung war die Bildung neuer, also nicht von vornherein vorhandener Strukturen. Kurz, Entwicklung war
epigenetisch
, sie besaß »zusätzliche«
(epi)
Anteile, die nicht bereits in der Eizelle vorhanden waren, sondern sich erst bildeten
(genesis)
.
Der Gedanke der Epigenese war sowohl mit dem platonischen als auch mit dem aristotelischen Denken vereinbar: Keine dieser Denktraditionen ging davon aus, dass alles, was die Gestalt eines Organismus ausmacht, bereits in der Materie der befruchteten Eizelle vorhanden ist. Für die Ausprägung der Form war eine Idee oder die Seele zuständig.
Die Mechanisten standen dagegen vor der gewaltigen Aufgabe, erklären zu müssen, wie mehr materielle Form aus weniger hervorgehen und sich auf höchst geordnete Weise entwickeln kann. August Weismann ( 1834 –1914 ) glaubte in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts die Antwort gefunden zu haben. Er unterschied an Organismen zwei Anteile, nämlich Körper
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