Der Wissenschaftswahn
sein, wird die Royal Society um einen Schiedsspruch ersucht.
Ich halte Wolperts Vertrauen in die Voraussagekraft des Genoms für unbegründet. Gene erlauben dem Organismus, Proteine herzustellen, aber die Entwicklung eines Embryos erklären sie nicht. Das Problem beginnt bei den Proteinen selbst. Gene geben die lineare Sequenz von Aminosäuren in Polypeptidketten vor, die sich dann zu komplexen dreidimensionalen Proteinen falten. Wolpert nimmt an, dass man die Konformation oder Einfaltungsform eines Proteins mittels Computer berechnen kann, wenn man nur die von den Genen spezifizierte Abfolge der Aminosäuren kennt. Das allerdings hat sich nach über vierzig Jahren bestens finanzierter intensiver Forschung (siehe Kapitel 5 ) als unmöglich erwiesen. Und selbst wenn das Problem der Proteinfaltung lösbar wäre, im nächsten Schritt würden wir vor der Aufgabe stehen, den Bau von Zellen aus den Interaktionen von Abermillionen Proteinen und anderen Molekülen abzuleiten – und stünden vor mehr möglichen Kombinationen, als das Universum Atome enthält.
Organismen und ihr Bau oder ihr Verhalten lassen sich nun einmal nicht aus zufälligen molekularen Permutationen ableiten. Zellen, Gewebe und Organe bilden sich vielmehr modular, und für die Form sorgen morphogenetische Felder, wie sie erstmals in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von den Biologen erkannt wurden (Kapitel 5 ). Auch Wolpert erkennt die Bedeutung solcher Felder. Unter Biologen ist er vor allem wegen seines Begriffs der »Positionsinformation« bekannt, die den Zellen sagt, wo sie sich im morphogenetischen Feld eines entstehenden Körperteils, etwa eines Beins, befinden. Er glaubt aber, dass sich morphogenetische Felder auf bekannte Phänomene der Physik und Chemie werden zurückführen lassen. Das sehe ich anders. Für mich besitzen solche Felder Ordnungs- oder Systemeigenschaften, die mit noch unbekannten Prinzipien zusammenhängen.
Die epigenetische Vererbung reduziert die Voraussagekraft des Genoms aber noch weiter.
Morphische Resonanz und morphogenetische Felder
Erbliche Organisationsmuster sind nur durch eine von oben nach unten gerichtete Kausalität zu erklären: durch Wirkungen, die von Mustern einer höheren Ordnung, von höheren Systemeigenschaften oder Feldern ausgehen.
Wir können uns eine von oben nach unten wirkende Kausalität beispielsweise anhand von Magnetfeldern vorstellen. Im gesamten Feld fließen Einflüsse »auf« und »ab«, hin und her. Das Magnetfeld entsteht aus dem Zusammenwirken kleiner magnetischer Domänen, die eine gemeinsame Ausrichtung haben und so das Gesamtfeld erzeugen. Dieses wiederum wirkt auf die einzelnen magnetischen Domänen zurück und stabilisiert ihre Ausrichtung. Wird ein Magnet über eine bestimmte Temperatur hinaus erhitzt, verliert er seine Magnetkraft: Die Ordnung zerbricht, und die mikroskopisch kleinen magnetischen Domänen haben keine Orientierung mehr. Das Gesamtfeld existiert nicht mehr. Es ist wie bei einem sterbenden Lebewesen.
Ein morphogenetisches Feld ist eine geschachtelte Hierarchie oder Holarchie morphogenetischer Einheiten oder Holons (Abbildung 1 ). Das morphogenetische Feld eines Lemuren koordiniert die Felder seiner Gliedmaßen, Muskeln und Organe; Organfelder koordinieren wiederum Gewebefelder, Gewebefelder koordinieren Zellenfelder und so weiter.
Morphogenetische Felder lassen sich auf zweierlei Weise verstehen. Man kann sie als letztlich mathematische Gebilde auffassen, und so gelangen wir zu der von René Thom dargestellten platonischen Theorie der Form. Vererbung der Form ist dann ein Zusammenwirken von Genen und Proteinen mit zeitloser Mathematik. Nicht die Gene und Proteine stellen die Form her, sondern die Mathematik.
Aber morphogenetische Felder können auch Geschichte in sich tragen. Sie erben ihre Form durch morphische Resonanz mit früheren Organismen einer ähnlichen Art. Sie lassen sich auch dann noch mathematisch darstellen, aber solche Modelle
erklären
das Feld nicht, sondern bilden es nur ab. Vererbung ist das gemeinsame Werk der Gene und der morphischen Resonanz.
Der Unterschied zwischen der platonischen Theorie und der Hypothese der morphischen Resonanz lässt sich an einem Fernsehgerät verdeutlichen. Die Bilder auf dem Schirm werden von den materiellen Komponenten des Geräts und vom zugeführten Strom erzeugt, beruhen aber letztlich auf dem unsichtbaren elektromagnetischen Feld des Senders. Wenn jemand überhaupt nicht an unsichtbare Einflüsse
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