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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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damit die Seelenklempnerin etwas für ihren Bericht an den Direktor in der Hand hatte und alle sich bescheinigen konnten, ihre Pflicht getan zu haben. Also dachte Jordan einen Moment nach und sagte: »Ich hab ein bisschen Angst davor, richtig schlimme Alpträume zu bekommen. Ich meine, ich sehe die Frau noch vor mir, wie sie springt. Es war so traurig. Ich fände es entsetzlich, selbst so traurig zu sein.«
    Die Psychologin nickte. Sie schrieb etwas auf einen Block. Schlaftabletten, schätzte Jordan.
Sie stellt mir ein Rezept über Schlaftabletten aus, aber nur ein paar, damit ich mich damit nicht umbringen kann.
     
    Über dem Eingang zum Gesundheitszentrum brannte ein einziges schwaches Licht, und Jordan blieb, bevor sie hinausging, einen Moment stehen und spähte in die Dunkelheit. Das Gebäude lag etwas abseits an einer Nebenstraße am Rande des Campus, und Jordan wurde klar, dass sie eine erhebliche Strecke mit abendlichen Schatten zu durchqueren hatte, bis sie auf andere Studenten stieß, die um diese Zeit noch auf den Pfaden unterwegs waren.
    Sie überkam ein flirrendes, waberndes Gefühl der Einsamkeit, das sie an die Hitzewellen erinnerte, die an brütend heißen Sonnentagen aus dem Asphalt aufsteigen. Das war nicht logisch; es war kalt. Sobald sie aus der Tür trat, hätte sie einen kühlen Kopf und glasklaren Verstand haben müssen, doch es war anders.
    Sie beugte den Oberkörper vor, zog die Schultern ein und eilte gegen den schneidenden Wind voran.
    Sie war nur ein paar Schritte weit gekommen, als sie im Schatten einer großen Eiche, die mit ihren Zweigen die Rückseite eines der verlassenen Unterrichtsgebäude streifte, eine Gestalt erkannte.
    Es war, als sähe sie ein Gespenst. Jordan stolperte und wäre fast gestürzt. Sie hatte das Gefühl, als setze für den Bruchteil einer Sekunde ihr Herzschlag aus.
    Die Gestalt war schwarz gekleidet. Das Gesicht war von einem Schal und einer Mütze verhüllt. Nur die Augen des Mannes waren zu sehen und blitzten wach und lebendig.
    Sie hob eine Hand und wedelte damit hin und her, als könnte sie die Erscheinung im nächtlichen Dunkel verbannen. Doch die Gestalt rührte sich nicht, sondern blickte sie an. Langsam hob der Mann die Hand und zeigte mit dem Finger auf sie.
    Die Stimme klang gedämpft, als wehte sie in Böen aus wechselnden Richtungen zu ihr herüber.
    »Hallo, Rote Drei.«
    Eine Panik erfasste sie, die sie aus jeglicher Verankerung riss und vollkommen lähmte. Sie wollte wegrennen, doch plötzlich waren ihr die Füße so schwer, als steckten sie tief im Morast. Die Angst war wie eine scharfe Klinge, die ihren Körper in einem einzigen Hieb in zwei Hälften zu spalten schien. Dann wieder fühlte sie sich wie Quecksilber, das auf den Boden tropfte und augenblicklich verdampfte. Ihr schossen widersprüchliche Befehle durch den Kopf, über die sie keine Kontrolle hatte. Sie bekam weiche Knie, und von unten breitete sich die Schwäche wie eine Infektion im ganzen Körper aus. Sie fürchtete, dass sie zusammenbrechen, sich einrollen und nur mehr warten würde. Jetzt, dachte sie, er ist gekommen, um mich zu töten!
    Wie vom Schlag gerührt, taumelte Jordan zurück.
    Die Gestalt schien mit dem dicken schwarzen Baumstamm zu verschmelzen. Jordan trübte sich der Blick, sie konnte nicht mehr zwischen dem Mann und dem Schatten unterscheiden. Unwillkürlich erhob sie beide Arme und hielt sie sich vors Gesicht, als wollte sie einen Schlag abwehren.
    Sie hörte ein seltsames Geräusch in ihrer unmittelbaren Nähe, das sie zunächst nicht erkannte, bis sie begriff, dass es ihr eigener Atem war, der hechelnd und keuchend kam und in ein kindliches Wimmern überging.
    Verzweifelt sah sie sich nach Hilfe um, doch sie konnte das Wort nicht mit Zunge und Lippen formen, über ihre Stimme hatte sie keine Macht. Es herrschten nur Dunkelheit und Schweigen. Als sie wieder zu der Gestalt hinüberspähte, war sie verschwunden. Wie beim Bühnenauftritt eines Magiers hatte sie sich in Luft aufgelöst.
    Nichts wie weg, brüllte sie sich innerlich zu.
    Sie merkte kaum, wie sie sich umdrehte und aus Leibeskräften rannte.
    Sie war Sportlerin, und sie war schnell. Diesmal hatte sie keinen Rucksack mit schweren Büchern dabei. Die Wege waren nirgends vereist, und so holte sie mit jedem Schritt noch weiter aus. Das Klatschen ihrer Sohlen auf dem schwarzen Asphalt klang ihr in den Ohren wie das ferne Echo von Pistolenschüssen. Sie schwang die Arme mit, und während sie in ihrer

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