Der Wolf
Verzweiflung immer schneller lief, konnte sie nur den einen Gedanken fassen, dass sie ihm trotz allem nicht entkam. Sie spürte den Wolf hinter sich, merkte, wie er sie einholte, wie er mit seinen Raubtierzähnen nach ihren Fersen schnappte. Der Gedanke, dass sie nur noch wenige Sekunden zu leben hatte, war niederschmetternd, und sie wollte brüllen: Das ist nicht fair, ich will weiterleben, ich will nicht hier und jetzt, an diesem Abend, auf dem Gelände einer verhassten Schule, inmitten von Menschen, die nicht meine Freunde sind, sterben! Sie keuchte die Worte heraus: Mutter, hilf mir! Dabei wollte sie die Hilfe ihrer Mutter gar nicht, da ihre Mutter nie jemandem half außer sich selbst. Sie fühlte sich wie ein kleines Kind, kaum mehr als ein Baby, das Angst vor der Dunkelheit hatte und sich schutzlos Blitz und Donner ausgeliefert sah, obwohl ringsum nächtliche Stille herrschte.
Genau in dem Moment, als eine Hand von hinten nach Jordan griff, stolperte sie. Alles drehte sich, und wie ein Schlittschuhläufer, der aus der Spur gerät, fiel sie der Länge nach hin. Sie streckte die Hände aus, um den Sturz abzufangen, und stieß einen kurzen Schrei aus. Die harte Teerdecke schürfte ihr die Handballen auf, und sie schlug sich das Knie wund. Für einen Moment war sie vom Schmerz, der sie durchzuckte, wie benommen. Sie lag flach auf dem Boden, war jedoch so geistesgegenwärtig, sich auf den Rücken zu rollen und dem Wolf, der nach ihr geschnappt hatte, einen Tritt zu verpassen. Sie hörte ihre Schreie »Weg! Hau ab!«, als kämen sie von ferne und nicht aus ihrem eigenen Mund. Alles schien bruchstückhaft, zusammenhangslos, unwirklich und fremd.
Sie wehrte sich. Ihr kamen die Tränen, sie boxte und kämpfte, spannte jeden Muskel, jede Sehne bis zum Zerreißen an und holte Schlag um Schlag gegen die bedrohliche Dunkelheit aus. Unter jedem Hieb spürte sie Fell, Fleisch und scharfe, gebleckte Zähne an den Fingerknöcheln; Speichel und warmes Blut spritzten ihr in die Augen und trübten ihr die Sicht. Sie merkte, wie jemand sie packte und in die Höhe hob, sie kratzte und krallte, denn sie wollte nicht sterben. Sie kämpfte mit letzter Kraft.
Gegen nichts.
Es waren die längsten Momente in Jordans Leben, länger als das Ende eines Spiels, das bis zuletzt unentschieden ist, bei dem die Anspannung mit den Sekunden verschmilzt und alles wie im Flug oder aber in Zeitlupe vergeht, als seien für diesen einen Moment die Naturgesetze außer Kraft gesetzt. Schließlich begriff Jordan: Ich bin allein.
Kein Wolf.
Kein Mörder.
Ich sterbe nicht.
Zumindest nicht jetzt.
Jordan breitete Arme und Beine auf dem kalten Boden aus. Sie spürte die angenehme Kühle am überhitzten Körper. Sie starrte in den schwarzen Nachthimmel und sah die Sterne aufblitzen. Sie schloss die Augen und horchte. Vertraute Laute drangen an ihre Ohren: das ferne Aufheulen eines Motors, laute Stimmen aus einem Wohnheim, ein paar Akkorde auf einer E-Gitarre zu den rülpsenden Tönen eines Saxophons. Sie kniff die Augen zu, um sie im nächsten Moment wieder zu öffnen.
Schritte.
Sie schnappte nach Luft und setzte sich auf. Sie blickte nach rechts, nach links und wandte den Kopf wiederholt in alle Richtungen.
Niemand.
»Aber ich habe ihn doch gehört …«, sagte sie im Flüsterton, als müsste sie sich selbst überzeugen. Rote Drei dachte eines, Jordan Ellis etwas anderes.
Sie horchte angestrengt und bildete sich ein, wie von ferne das leise Heulen eines Wolfs zu hören – unverkennbar, unmöglich. Sie wusste, dass es eine Halluzination sein musste, doch für sie war es Wirklichkeit. Es kam ihr ein wenig so vor, als sei sie in eine frühere Zeit geraten, in eine andere Welt, in der nach Sonnenuntergang Raubtiere ihr Unwesen trieben. Sie wusste, dass sie einer modernen Zeit angehörte, einer Zivilisation, in der nachts die Lichter angingen und in der der Fortschritt pulsierte, dass der einsame Schrei, den sie hörte, zu einer anderen Zeit gehörte. Er war real und auch wieder nicht.
Jordan rappelte sich hoch. Ihre Jeans war zerrissen, und sie fühlte klebriges Blut an den Händen und am Knie. Eilig suchten ihre Augen das Dunkel auf dem einsamen Campus ab, um festzustellen, ob sich der Böse Wolf immer noch irgendwo versteckte.
Doch um sie herum nichts als schwarze Schatten.
Sobald die lähmende Panik wich, erwachte wieder der Fluchtinstinkt, und Jordan rannte los, um so schnell wie möglich in die beleuchteten Bereiche zu kommen.
Als in
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