Der Wolf
ist. Es war toll. Ich meine, wirklich toll – die perfekte Szene für das Buch. Ich wünschte mir nur, ich hätte in diesem Büro Mäuschen spielen können. Aber natürlich kann ich den Teil erfinden, Kinderspiel. Diesen Teenagerjargon richtig zu treffen, das ist allerdings nicht leicht, war es noch nie, seit Salinger da für alle Zukunft Maßstäbe gesetzt hat. Aber von solchen kleinen Details lebt die Geschichte, wenn ich sie erst alle zusammenbringe. Du hast was bei mir gut.«
Mrs. Böser Wolf war überglücklich. Als sie ihn am Vormittag deswegen angerufen hatte, war sie nicht sicher gewesen, ob ihr Mann überhaupt von dem Termin wissen wollte, doch jetzt fühlte sie sich wirklich wie ein Teil des Schaffensprozesses.
»Das hatte ich gehofft. Wenn ich also was bei dir guthabe, übernimmst du heute Abend vielleicht den Abwasch?«
Der Böse Wolf küsste seine Frau auf die Wange, kniff sie dann ins Hinterteil, so dass sie vor Vergnügen quiekte und ihm in gespielter Empörung einen Klaps auf die Hand gab. »Wird erledigt.« Beide lachten. »Ich mach nur noch ein paar kurze Notizen fürs nächste Kapitel und wasch mir die Hände. Dann komm ich zum Essen. Ich sterbe vor Hunger.«
Der Böse Wolf konnte selbst kaum glauben, was für einen Appetit er hatte. Diese Nähe zu Rote Drei – wenn auch nur für ein paar Sekunden – hatte bei ihm einen wahren Heißhunger geweckt. Und nicht nur auf Essen. Er musste sich mühsam beherrschen, um nicht seine Frau zu packen und ihr die Kleider vom Leib zu reißen. Er staunte über die Intensität seiner Gefühle. Dass Leidenschaft und Tod Hand in Hand gingen, bestätigte sich wieder einmal.
»Lässt du mich bald noch ein bisschen mehr lesen?«
Er grinste.
»Bald. Wenn es allmählich aufs Ende zugeht.«
Einen Moment trat Stille ein, dann ging der Böse Wolf hinaus. Bevor er sein Büro erreichte, drehte er sich noch einmal zu Mrs. Böser Wolf um, die am Herd stand und kochenden Reis in einem Topf umrührte. Sie summte eine Melodie, und er versuchte, sich zu erinnern, was es war. Es klang vertraut, der Titel des Songs lag ihm auf der Zunge. Er brauchte nur noch ein paar Töne zu hören. Einen Moment lang schaute er sich um. Er betrachtete den Tisch mit zwei Gedecken, roch den Hühnerbraten im Ofen. Er genoss die Banalität des Ganzen in vollen Zügen. Das macht das Töten zu so einem einzigartigen Erlebnis, dachte er. Eben noch sitzt du im Cockpit und gehst routinemäßig die Checkliste durch, absolut alltäglich, zum tausendsten Mal dieselben Kontrollen. Und im nächsten Moment jagst du die Startbahn entlang, wirst immer schneller und hebst ab – jedes Mal eine vollkommen neue Erfahrung. Du befreist dich von allen irdischen Fesseln.
Mit einem großen Holzlöffel klopfte Mrs. Böser Wolf an den Rand des siedenden Topfs. Wie ein Drummer, der sich an einem neuen Beat versucht, erkannte sie, dass der Rhythmus ihres Lebens sich auf rätselhafte und recht angenehme Weise geändert hatte. Schreiben, Töten und Liebe, dachte sie, sind jeweils auf ihre Art im Grunde doch dasselbe, wie unterschiedliche Maschen im selben Gewebe. Sie schlug den Löffel in einem geläufigen Takt schwungvoll an den Topf: bum tata bum tata bum bum. Die berühmte Bassmelodie zu Buddy Hollys immer wieder gecovertem
Not Fade Away.
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I n den folgenden Tagen ließ der Böse Wolf keine Nachrichtensendung aus, las jedes Wort in den Lokalzeitungen und ging sogar die Regionalsender im Radio durch, um auch nicht den kleinsten Hinweis auf das Schicksal von Rote Zwei zu verpassen. Er machte es sich zur eisernen Gewohnheit, in regelmäßigen Abständen am Ort ihres Selbstmords vorbeizufahren und zu sehen, ob die Polizei inzwischen ihre Leiche geborgen hatte. Als sie die Suche nach ihr einzustellen schienen, war er verärgert. Es war immer noch möglich, dass sie irgendwo am Grund des Flusses lag. Aber er konnte es nicht sicher wissen. Er verfluchte die Cops wegen ihrer Inkompetenz. Er brauchte Klarheit, und es war ihre Pflicht, die zu schaffen.
Zwei Tage nach dem prickelnden Vergnügen, Rote Drei nach ihrem Besuch bei der Schulpsychologin zu verfolgen, brachte er eine frustrierende Stunde damit zu, im Wohnviertel von Rote Zwei herumzulaufen. Seit dem Abend, an dem sie angeblich von der Brücke gesprungen war, konnte er – abgesehen von einem weißen Blumenstrauß, den jemand an ihre Haustür gelegt hatte und der bereits zu welken begann – kein Lebenszeichen von ihr entdecken.
Als er auf der
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