Der Wolf
-ködern, leuchtend roten, blauen und gelben Kajaks sowie stapelweise Schwimmwesten und Helmen.
»Hi«, sagte Jordan forsch. »Können Sie mir helfen?«
Der Verkäufer schien nicht ganz bei der Sache. Er war gerade dabei, Pfeile und Bögen mit Preisschildern zu versehen. Er sah kurz zu ihr auf, und Jordan registrierte sofort, dass er sie nicht für voll nahm. Teenager wie sie zog es normalerweise in die Sportschuhabteilung, oder sie suchten nach Kopfhörern für ihren iPod.
»Mein Dad ist ein leidenschaftlicher Jäger und Angler«, sagte Jordan mit einem Lachen. »Ich suche ein Geburtstagsgeschenk für ihn.«
»Und an was hatten Sie so gedacht?«, fragte der Angestellte.
»Er bringt zum Abendessen gern mal frischen Fisch mit«, antwortete sie. »Er hat ein Boot, mit dem er rausfährt.«
Jordans Vater war leitender Angestellter bei einer Investmentfirma an der Wall Street. Ihres Wissens hatte er noch nie eine Nacht im Freien verbracht, und das Kernigste, wozu er sein Büro verließ, war ein Geschäftsessen in einem französischen Restaurant mit zwei Martinis.
Sie zeigte auf eine Auslage. »Was halten Sie davon? Meinen Sie, das könnte er gebrauchen?«
Der Verkäufer folgte ihrem Blick. »Also«, sagte er, »Sie werden keinen Angler finden, der frischen Fisch zum Abendessen mitbringt und nicht stolz auf so ein Messer wäre. Die sind echt gut. Spitzenqualität. Nicht ganz billig, aber ich wette, darüber würde er sich freuen.«
Jordan nickte. »Dann nehme ich das.«
Der Verkäufer nahm das zwanzig Zentimeter lange Filetiermesser von der Auslage. »Die kommen aus Schweden, mit einer lebenslangen Schärfegarantie.«
Jordan bewunderte die schmale, gebogene Klinge und den schwarzen Griff. Rasiermesserscharf, dachte sie.
Ihr blieb nicht viel Zeit, bevor der Aufsicht führende Lehrer die Schüler für die Rückfahrt einsammeln würde, daher eilte sie, so schnell sie konnte, zu den Toiletten im zweiten Stock, wo sie mit weniger Betrieb rechnete als in den größeren Toiletten bei den Imbissständen im Erdgeschoss. Sie stürmte hinein und war zu ihrer Erleichterung allein.
Sie zog das Filetiermesser aus der Lederscheide. Dann riss sie ein Blatt Klopapier ab und schnitt es durch, als wäre es Luft. Sie schwang die Waffe wie ein Schwertkämpfer über dem Kopf. Das bringt’s, dachte sie. Sie steckte das Messer in die Lederscheide zurück und wickelte es behutsam in den schwarzen Rollkragenpulli, den sie anschließend in die aufgeklappte Geschenkschachtel packte. In fieberhafter Eile nahm Jordan das glänzende Geschenkpapier sowie das Band und verpackte die Schachtel, wobei sie jede Ritze sorgfältig verklebte. Sie nahm die Geburtstagskarte und schrieb hinein: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mom! Hoffe, er passt! Deine Jordan« Die Karte kam in den dazugehörigen Umschlag, das Ganze klebte sie auf den Karton.
An der Schule war jeglicher Waffenbesitz streng verboten, doch Jordan wusste, dass sie eine brauchte. Sie hegte nicht die Absicht, den Pullover ihrer Mutter zu schicken, die ohnehin erst in einigen Monaten Geburtstag hatte. Doch kein Aufsicht führender Lehrer würde sie auffordern, ein solches Geschenk auszupacken, und selbst dann würde er darin nichts anderes als den Pullover entdecken und wohl kaum zwischen die Falten greifen, um zu überprüfen, ob sich noch etwas darin verbarg.
Jordan huschte die Frage durch den Kopf, ob der Böse Wolf ein so guter Schmuggler war wie sie.
Wie fühlte es sich wohl an, ihm das Messer zwischen den Rippen ins Herz zu stoßen? Unter dem Brustbein ansetzen und nach oben ziehen, dachte sie. Wirf alle Hemmungen ab. Leg dein ganzes Gewicht rein, nimm deine ganze Kraft zusammen und zögere keine Sekunde. Erwische ihn, bevor er dich erwischt. Allein bei dem Gedanken, dem Bösen Wolf mit einer so tödlichen Waffe wie dem Filetiermesser entgegenzutreten, fühlte sie sich sicherer. Wann immer sie den Bösen Wolf in ihrer Phantasie tötete, überrumpelte sie ihn, und er war ihr gnadenlos ausgeliefert. Der Böse Wolf hatte seinerseits nie eine Pistole oder ein Messer oder irgendeine andere Waffe dabei. Letztlich wusste Jordan auch in ihrer Vorstellung nicht, wie sie ihn bezwingen sollte. Doch irgendeinen Weg musste es geben.
Zu Sarahs ersten Lernerfahrungen im
Safe Space
gehörte es, dass ein paar der Grundregeln, welche die meisten Menschen für selbstverständlich hielten, hier ständig missachtet wurden. Das gefiel ihr. Sie ging davon aus, dass sie in den nächsten
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