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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Straße vor ihrem Haus stehen blieb, begriff er, dass er sich nicht länger vor ihr zu verstecken brauchte. Sie war weg, so viel stand fest.
    Er fühlte sich ausgetrickst und war wütend.
    Letzte Nacht war er, ohne seine Frau zu wecken, aus dem Bett geschlichen und hatte sich im Arbeitszimmer eingeschlossen, um sein umfangreiches Dossier über Rote Zwei zum soundsovielten Male bis ins Letzte durchzusehen. Bei seinen gesamten Recherchen hatte er keinen Hinweis auf irgendjemanden – ob entfernte Angehörige oder Freunde – gefunden, die sie vor ihm verstecken könnten. Es ärgerte ihn, dass er womöglich irgendeine Verbindung übersehen hatte.
    Doch dann dachte er an die Grabstätte mit den beiden Namen, zu denen jetzt ein dritter hinzukommen würde. Diese beiden Namen waren einer der entscheidenden Gründe dafür, dass seine Wahl überhaupt auf Rote Zwei gefallen war. Nie im Leben wäre sie weggegangen und hätte dieses Grab zurückgelassen. Das hätte sie nicht über sich gebracht. Es gab für sie nur zwei Möglichkeiten, ihnen auf ihrem Weg zu folgen: mich oder diese verdammte Brücke über den verdammten Fluss.
    Es war ein harter Schlag für den Bösen Wolf. Er wusste, dass er alles getan hatte, um sie in den Selbstmord zu treiben. Allerdings hatte er geglaubt, er hätte sie nur an den Rand des Abgrunds getrieben, so dass sie, wenn es so weit war, den Tod einfach hinnehmen würde.
    Er wusste, dass ihn die neue Situation beim Schreiben vor Schwierigkeiten stellen würde. Seine Leser wollten zweifellos über jeden Schritt, den er unternommen hatte, im Bilde sein. Sie wollten mitfiebern und sich bei der Lektüre vor die gleiche Wahl wie Rote Zwei gestellt sehen: auf die eine oder die andere Weise zu sterben.
    Verliere nie die Leser aus dem Blick, rief er sich ins Gedächtnis.
    Gewohnheitsgemäß überprüfte er Rote Eins. Wie erwartet, hielt sie sich an ihre Alltagsroutine. Sosehr sie sein Katz-und-Maus-Spiel in Panik versetzt haben mochte, gab dies Rote Eins eine gewisse Sicherheit, die Fassade aufrechtzuerhalten, was ihn beruhigte. Sie ging nicht mehr in die Comedyclubs, schlich sich nicht auf eine halbe Zigarettenlänge heimlich auf den Parkplatz. Sie traute sich inzwischen nicht mal mehr, ihrer Sucht zu frönen, dachte er. Sie kam früh zur Arbeit, machte spät Feierabend und fuhr von dort direkt nach Hause. Das fand er gut. Es stand auch nicht zu befürchten, dass Rote Eins – oder Drei – weglaufen würden. Das gehört zu den großen Rätseln, auf die man bei der Planung eines Mordes stößt, musste er unwillkürlich denken, als er durch die dunklen Fenster im Haus von Rote Zwei spähte. Die Logik legt nahe, dass wir fliehen, uns verstecken, Freunde um Hilfe bitten – dass wir irgendetwas unternehmen, um uns in Sicherheit zu bringen. Aber genau das tun wir eben nicht. Sowie sich Jäger und Beute näher kommen, wird der eine Part dieser Konstellation konzentrierter, geschickter und vor allem zielstrebiger, während der andere hilflos zusieht, wie sich die Schlinge immer enger um ihn zieht, so dass er immer weniger in der Lage ist, klar zu denken.
    Ihm kamen Fernsehaufnahmen von Löwen in den Sinn, die Antilopen jagen, oder Wölfe wie er, die sich an ein Rentier anschleichen. Die Gejagten geraten in ihrer Panik völlig außer Kontrolle und laufen ziellos hin und her. Der Jäger dagegen bleibt unbeirrt, entschlossen; er ist Herr der Situation und schneidet seiner Beute jeden Fluchtweg ab. Dies alles traf auf ihn zu. Er sollte das in seinem Buch betonen.
    Ihm kam ein seltsamer Gedanke: Männliche Löwen überlassen den Weibchen die Jagd, aber sie bekommen das erlegte Tier als Erste zum Fraß. Er überlegte, ob Wölfe genauso waren. Wohl kaum. Wir sind nicht faul.
    Der Böse Wolf warf einen letzten Blick auf das Haus von Rote Zwei. Er bezweifelte, dass er je wieder herkommen würde, merkte jedoch sofort, dass er sich nur mit Mühe losreißen konnte. Er führte sich noch einmal vor Augen, welches Vergnügen es ihm bereitet hatte, immer wieder an diesem Haus vorbeizufahren, ihr wochen- und monatelang nachzuspionieren. Er tat sich schwer mit dem Gedanken, dass diese Phase vorbei sein sollte. Es war Zeit, nach Hause zu fahren, doch er wurde das frustrierende Gefühl nicht los, unverrichteter Dinge abzuziehen. Er konnte nur hoffen, dass sich die lang ersehnte Befriedigung einstellte, wenn er Rote Eins und Rote Drei tötete. Schweren Schrittes, als habe er etwas von seiner Sprungkraft eingebüßt, stapfte er

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