Der Wolf
entgegengesetzte Richtung gelaufen und hatte dabei immer wieder über die Schulter geblickt, um sich zu vergewissern, dass ihr auch niemand folgte. Ihr war klar, dass allein ihre Anwesenheit in der Wohngegend von Rote Zwei verriet, wohin sie wollte. Wahrscheinlich lauerte der Böse Wolf in irgendeinem Winkel und beobachtete sie. Einmal mehr folgte sie dem Verhaltensmuster, das ihr Widersacher seinen drei Opfern aufgenötigt hatte und das sie schier in den Wahnsinn trieb: Schlage die falsche Richtung ein. Rechne jeden Moment damit, dass ein Mörder vor deinem Fenster lauert. Halte immer die Ohren offen. Sieh genau hin. Sei immer auf der Hut – eine einzige Unachtsamkeit, und du bist tot. Aber auch wenn du noch so wachsam bist, kann es jeden Augenblick so weit sein.
Karen blieb auf der Straße stehen und atmete langsam ein. Sie hatte einen kleinen Rucksack auf der Schulter und rückte ständig die Gurte zurecht, als seien sie ihr unbequem, dabei wusste sie, dass es um etwas ganz anderes ging. Ihr wissenschaftlicher Verstand analysierte, wie nachhaltig die Verunsicherung und Angst inzwischen bei jeder von ihnen Denken und Handeln zersetzte.
Ich kann keine Ärztin und kein Comedian mehr sein. Sarah kann keine Witwe mehr sein. Jordan kann kein normaler Teenager mehr sein, falls es das überhaupt gibt.
Das Bewusstsein überwältigte sie, dass es zwar für jedermann irgendwann zu Ende ging, die meisten Menschen aber die Ungewissheit darüber aufrechterhielt, wann und wie der letzte Akt beginnen würde. Ändere in der Gleichung des Sterbens nur diesen einen Faktor – durch eine letale Krankheit oder einen plötzlichen Unfall oder einen anonymen Mörder –, und nichts ist mehr, wie es war.
Sie versuchte, sich zu beruhigen. Es gelang ihr nicht.
Rote Eins ist fortwährend von Angst und Zweifeln geplagt. Wie im Märchen: »Aber Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul.«
»Dass ich dich besser fressen kann.«
So viel war ihr klar.
Aber wer oder was ist Karen?
Sie stellte sich die Frage wieder und wieder. Bis ihr die Worte im stetigen Takt ihrer Schritte auf dem Gehweg im Kopf widerhallten. Sie machte abrupt kehrt und ging die Straße, die hinter Sarahs Haus verlief, zurück.
»Die Nachbarn auf der Gartenseite haben blaue Fensterläden und eine rot gestrichene Tür. Das Haus selbst ist strahlend weiß. Sehr patriotisch das Ganze. Sie haben keinen Zaun – du kommst von der Straße aus einfach in den Garten. Ganz hinten in der Ecke steht ein Klettergerüst. Du brauchst die Leiter nur halb hochzusteigen und von da aus über den Maschendrahtzaun zu springen, der die beiden Grundstücke voneinander trennt. Am Rand steht ein Baum. Versteck dich da eine Weile und lauf dann zur Küchentreppe rüber. Niemand wird dich sehen.«
Sarahs Instruktionen waren klar und präzise, ein gut durchdachter Plan, wie von einer Lehrerin zu erwarten:
Tu dies. Tu das. Alle mal herhören!
Karen hielt den Kopf gesenkt und warf verstohlene Blicke auf die Häuser in der Straße, um das rot-weiß-blaue nicht zu verpassen. Als sie es entdeckte, blieb sie stehen und vergewisserte sich, dass niemand sie beobachtete, auch wenn ihr wie immer klar war, dass sie sich niemals sicher sein konnte. An der Seitenwand des Hauses entlang huschte sie geduckt in den Garten.
Sie lief so schnell sie konnte, fast im Sprint, sah das Klettergerüst und rannte darauf zu. In der Ferne bellte ein Hund –
wenigstens ist es nicht das Heulen eines Wolfs
–, und gemäß Sarahs Anweisung stieg sie die Leiter auf halbe Höhe hinauf. Das Gerüst schwankte ein wenig, als sie den rechten Fuß zur Oberkante des Maschendrahtzauns hob, dann stieß sie sich ab und sprang hinüber.
Karen verlor das Gleichgewicht und fiel hinter dem dunklen Haus von Rote Zwei ins feuchte Gras. Sie krabbelte zu dem Baum, an dem sie sich verstecken sollte, und wartete, bis ihr Atem sich normalisierte. Das Adrenalin, das ihr in den Ohren rauschte, klang wie ein Wasserfall, und sie brauchte ein paar Minuten, um sich so weit zu beruhigen, dass sie die nächtlichen Geräusche unterscheiden konnte: ein paar Häuserblocks entfernt ein Auto, irgendwo eine Sirene. Wieder Hunde, aber nicht so laut, als schlügen sie an.
Warte!, befahl sie sich.
Sie horchte auf gedämpfte Schritte und spitzte die Ohren, um nicht das kleinste Geräusch eines möglichen Verfolgers zu verpassen.
Nichts.
Es reichte nicht, um sie zu beruhigen.
Was sie aus dem Haus von Rote Zwei brauchte, war nicht
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