Der Wolf
seelenloses Ambiente. Karen fand es ideal. »Oh, das gefällt mir«, sagte sie, während sie im Stillen dachte: Falls es dem Wolf gelingt, mich zu töten, kann ich mir keinen scheußlicheren Ort vorstellen, um aufgebahrt zu werden. Himmel, sollte er den Sieg davontragen, kann ich nur hoffen, dass jemand mich nimmt, auf eine Bühne packt und sämtliche Komiker im Land zusammentrommelt, damit sie über meiner Leiche die wüstesten, unpassendsten Witze reißen, so dass alle auf meine Kosten noch einmal was zu lachen haben. »Das sind schöne Vorhänge«, sagte sie und zeigte auf die Rückwand. Sie waren aus Kunstseide.
»Ja«, sagte der Bestatter. »Dahinter befindet sich noch ein kleiner Raum. Manchmal wollen die Angehörigen, Sie wissen schon, einen Moment ungestört sein.«
»Natürlich«, sagte Karen. Der Vorhang war für das, was sie vorhatte, perfekt.
Wie der Böse Wolf dachte auch Rote Drei über Waffen nach, als der Kleinbus ihrer Schule auf den Parkplatz des Einkaufszentrums fuhr.
»Also, zwei Stunden, nicht mehr, behaltet die Uhr im Auge«, erklärte der junge Lehrer, bevor er für das Dutzend Schüler, die sich in dem Fahrzeug drängten, die Tür öffnete. »Und bleibt zusammen, in Gruppen. Passt auf euch auf.«
Die Schule beförderte regelmäßig ihre Schutzbefohlenen zum Einkaufen hierher. Jordan war nur selten auf diesen Ausflügen dabei gewesen. Für das grelle Licht und die Musikberieselung, der man nirgends entkam, hatte sie ebenso wenig übrig wie für einen Schaufensterbummel oder das Anprobieren billiger Fetzen, die sich Teenagermode nannten.
Der Lehrer, Anfang dreißig, der Geografie unterrichtete, würde sich in irgendeiner Snackbar eine überteuerte Tasse Kaffee bestellen und sich in eine Ecke setzen, wo er ungestört lesen konnte, bis die zwei Stunden herum waren. Er war im Wesentlichen mitgekommen, um dafür zu sorgen, dass am Ende durchgezählt wurde und niemand gegen eine Vorschrift der Schule oder der Mall verstieß.
Jordan kam in der festen Absicht, gegen eine fundamentale Vorschrift zu verstoßen.
Sie hatte eine Kreditkarte von Rote Eins in der Tasche und eine genaue Einkaufsliste im Kopf. Sie stand unter Zeitdruck – nicht nur, weil der Lehrer den Besuch auf zwei Stunden beschränkt hatte, sondern auch, weil Karen noch am selben Abend bei der Kreditkartenfirma anrufen würde, um die Karte als gestohlen zu melden und sperren zu lassen.
Ihr erster Einkauf führte sie in ein Elektrogeschäft. Der Videorekorder, den der Verkäufer ihr aufschwatzte, war kaum größer als ihr Handy und ließ sich mit einer Hand bedienen. Er war mit einer Weitwinkelkamera ausgestattet, was sich als hilfreich erweisen mochte. Die Kreditkarte von Rote Eins wurde problemlos akzeptiert und der Rekorder eingepackt.
Der nächste Artikel auf Jordans Einkaufsliste war nicht mit Karen abgestimmt. Ein wenig plagte sie das schlechte Gewissen, als sie das Modegeschäft betrat. Es war ein Laden der gehobenen Klasse für junge Berufstätige. Sie steuerte zielstrebig die Regale mit den überteuerten Kaschmir- und Baumwollpullovern an und entschied sich für einen schwarzen Rollkragenpulli in ihrer Größe, der ihr gefiel. Sie ging damit zur Kasse, an der ein Mädchen, kaum älter als sie selbst, stand.
»Ein Geschenk für meine Mutter«, sagte Jordan mit einem aufgesetzten Lächeln.
Die Kassiererin zog die Kreditkarte durch und fragte: »Möchten Sie einen Geschenkkarton dafür?«
»Ja, bitte«, antwortete Jordan. Sie hatte mit diesem Detail, dass die Geschäfte im Einkaufszentrum die Waren nicht mehr selbst verpackten, gerechnet. Inzwischen steckten sie einfach die Ware zusammen mit einer gefalteten Pappschachtel in eine Papiertüte mit dem Logo des Ladens.
Jordan unterschrieb die Kreditkartenquittung mit einem Schnörkel, der an Karens Namen erinnerte. Sie sah auf die Uhr. Sie musste sich beeilen.
Im Papierwarenladen hielt sie sich nicht lange auf, sondern war im Nu mit einer Geburtstagskarte und kitschigem, silbrigem Geschenkpapier sowie Klebeband wieder draußen. Von hier aus begab sie sich über die Gänge der Mall ans gegenüberliegende Ende, an dem sich die große Filiale eines Sportgeschäfts befand.
Vorbei an sämtlichen T-Shirts und Sweatern von Nike, Adidas und Under Armour und den Schaufensterpuppen mit dem neuesten Schrei an Joggingkleidung begab sich Jordan zielstrebig in die Abteilung Jagd- und Angelsport. Ein Verkäufer mittleren Alters lungerte zwischen Tarnanzügen, Angelruten und
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