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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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war, als weinten sie beide um sie, und dieses unheimliche Gefühl ihrer Nähe führte dazu, dass sie schluchzend zusammenbrach.
    Immer wieder hatte er ihr versprochen, den Revolver aus dem Haus zu schaffen. Er hatte keine Zeit mehr dazu gehabt.
    Natürlich, dachte sie, als sie in der Tür stand und Angst hatte, auch nur Licht zu machen, hatten sie für keinen ihrer Pläne mehr Zeit gehabt. Die Reise zum Grand Canyon. Nach Europa. Das größere Haus in einer schöneren Gegend. Ein neues Auto. Und sie hatten es nicht gewusst, denn sonst wäre natürlich alles anders gewesen. Zumindest nahm sie das an, doch sie konnte nicht sicher sein.
    Sie blickte zu einem Bücherregal hinüber, das neben einigen Memoiren aus dem Zweiten Weltkrieg und aus Vietnam, die ihr Mann gelesen hatte, während er an den eigenen arbeitete, mit seinen Lieblingskrimis und -thrillern vollgestopft war. Auf dem obersten Regalfach war hinter abgegriffenen Romanen von Val McDermid und James Hall sowie John Grisham ein alter olivgrauer Munitionskasten aus Metall mit einem Kombinationsschloss versteckt. Den wollte sie holen.
    Sie kannte die Kombination. Es war der Geburtstag ihrer Tochter.
    »Tut mir leid«, sagte sie laut und vernehmlich, als wollte sie sich bei den beiden Geistern entschuldigen, die sie beobachteten. »Ich brauche die Waffe.«
    Ihr Mann war Leutnant bei der örtlichen Feuerwehr gewesen. Sie unterrichtete Kinder. Er löschte Brände. Sie korrigierte Rechtschreibtests. Er fuhr mit heulenden Sirenen in einem roten Löschzug. Es wäre nie ein Leben mit exotischen Ferienhäusern und einem großen, schwarzen Mercedes geworden. Glamour war nicht zu erwarten, doch es wäre immer ein gutes, solides, amerikanisches Leben gewesen. Sie wären liberale, geachtete Bürger der Mittelschicht gewesen. Sie kauften ihre Kleidung in der nächsten Mall und sahen abends nach dem Essen zusammen fern. Sie gehörten zur Fangemeinde sämtlicher Profi-Sportvereine Neuenglands und gönnten sich ab und zu den Luxus eines Ausflugs zu einem Spiel im Fenway Park oder im Gillette Stadion. Sie waren in der Gewerkschaft und stolz darauf. Sie stöhnten über die Steuer und machten gelegentlich unbezahlte Überstunden, weil sie ihre Arbeit liebten. Und es gab keinen Abend, an dem sie beide, wenn sie sich im Bett müde in die Arme sanken, nicht zuversichtlich dem nächsten Morgen entgegengesehen hätten.
    Das galt selbst für den letzten Tag ihres Lebens, den Tag, an dem Ted die kleine Brittany mit Schwung über den Kopf hob, um sie so lange zu kitzeln, bis sie vor Lachen ein rotes Gesicht bekam. Dann hatte er sie sorgfältig im Fond ihres sechs Jahre alten Volvos auf dem Kindersitz festgeschnallt. Sarah hatte noch gesehen, wie er den eigenen Gurt anlegte, bevor er ihr mit einem übermütigen Grinsen zuwinkte und Gas gab.
    Neun Blocks. Supermarkt. Der Tod.
    Mit dieser Gleichung hätte niemand rechnen können. Keine ausgeklügelte Statistik, kein Algorithmus hätte vorauszusagen vermocht, dass dieser Heizöl-Tankwagen bei Rot über die Ampel fahren und in sie hineinrasen würde. Dieser Umstand war ihr von Anfang an besonders verhasst gewesen. Es war Sommer. Es herrschten milde Temperaturen. In ganz Neuengland war niemand mehr auf seine Ölheizung angewiesen. Dieser Tanklaster hatte auf der Straße gar nichts zu suchen.
    Sie waren ordentlich angeschnallt. Die Airbags entfalteten sich auf der Stelle. Die Karosserie des Volvos aus torsionssteifem Stahl hatte sich entsprechend dem Sicherheitskonzept zum Schutz der Insassen zusammengeknautscht.
    Nur dass all das nichts genutzt hatte, denn sie waren beide tot.
    Sarah stand noch unschlüssig in der Tür. »Hör mal, Teddy«, sagte sie, »jemand schreibt, er will mich töten. Ich verspreche dir, dass ich sie nicht gegen mich selber richte. Auch wenn ich das am liebsten täte, aber ich verspreche dir, ich tu’s nicht. Jedenfalls noch nicht.«
    Fast kam es ihr so vor, als bräuchte sie seine Einwilligung, um den Munitionskasten zu suchen und die Waffe zu holen. Sie waren beide streng katholisch erzogen worden, und Selbstmord war ein Tabu. In ihren Augen eine Sünde. Die vernünftigste, logischste Sünde, die sie sich denken konnte, aber trotzdem eine Sünde.
    Sie hatte sich, dachte sie, auf so vielfältige Weise als Feigling erwiesen. Mit ein bisschen Mut hätte sie beschließen können, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Oder sie hätte sich aufraffen können, ihr Leben in den Griff zu bekommen, statt es in die Brüche gehen zu

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