Der Wolf
stillen Stunden nach Sonnenuntergang liebten, und sie hatte nicht vergessen, was Jordan auf dem Schulgelände gesehen hatte, und so setzte sich vor Karens geistigem Auge dasselbe Bild zusammen.
Sie starrte auf die Gestalt und flüsterte: »Du bist nicht da«, als könnten ihre Worte die Erscheinung, die sie vor sich hatte, zum Verschwinden bringen.
Die Schatten bewegten sich. Nie hätte sie gedacht, dass es so viele Nuancen von Schwarz gab.
Auf Zehenspitzen trat sie den Rückzug an und spürte die Nebelgestalt des Wolfs bei jedem Schritt im Nacken. Als sie die Küchentür erreichte, blieb sie noch einmal stehen, drehte sich um und blickte hinter sich.
Die Gestalt war weg.
Sie wirbelte wieder zur Tür.
Nein, er ist da draußen und wartet dort auf dich.
Sie versuchte, sich einzureden, jetzt sei sie völlig übergeschnappt.
So also fühlt es sich an, wenn man nicht mehr ganz bei Trost ist.
Es kostete Karen ungeheure Willenskraft, die Tür aufzumachen und hinauszustürzen. Beinahe wäre sie auf der Treppe gestolpert, und auch auf dem Weg durch den Garten rechnete sie jeden Moment damit, hinzufallen. Es gelang ihr, sich am Zaun festzuhalten und hinüberzuklettern, obwohl sich der Maschendraht wie Finger in ihre Kleidung krallte.
Im rot-weiß-blauen Haus ging Licht an.
Sie ignorierte es und rannte in die Nacht, die sie mit offenen Armen empfing.
Zum zweiten Mal an diesem Abend zitterten Karen die Hände. Sie ließ die Autoschlüssel fallen und fluchte laut, als sie sich bückte und auf dem Boden danach tasten musste. Widersprüchliche Befehle hallten ihr durch den Kopf:
Nichts wie weg!
Andererseits:
Immer sachte! Schön langsam und unauffällig.
Erst einige Minuten und Meilen später merkte sie, wie sich ihr rasender Herzschlag beruhigte. Sie fühlte sich wie ein Reh, das einem Rudel Hunde entkommen ist. Am liebsten hätte sie sich in einen sicheren, dunklen Winkel gekauert, bis sie sich wieder gefasst hatte.
Ein Auto raste an ihr vorbei. Sie kämpfte gegen den Instinkt an, blitzartig auszuweichen, weil das andere Fahrzeug ihr zu nahe gekommen war, dabei hatte es sie in Wahrheit ganz normal und ordnungsgemäß überholt. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, die Angst, die ihr die Kehle zuschnürte, in einem einzigen Willensakt abzuschütteln. Das hier gehörte zu den Auswirkungen ihrer Panik: Ganz normale, unspektakuläre Dinge erschienen in ihrer verzerrten Sicht bedrohlich. Kein Psychologiekurs an der Universität oder in der Facharztausbildung hatte ihr auch nur ansatzweise vermittelt, was panische Angst mit einem Menschen machte.
Sie hing diesem Gedanken nach, ohne sich gegen den Tumult in ihrem Kopf zu wehren, als ihr Handy klingelte. Wieder wäre sie beinahe ins Schleudern geraten. Das Klingeln erschreckte sie, und als sie nach dem Handy griff, verlor sie fast die Kontrolle über das Steuer. Es war nicht das Handy mit der Nummer, die nur Jordan und Sarah kannten, sondern ihr normales. Es lag auf dem Beifahrersitz.
Ein medizinischer Notfall, war ihr erster und einziger Gedanke.
»Doktor Jayson?« Eine selbstbewusste Stimme in knappem, sachlichem Ton.
»Am Apparat.«
»Alpha Alarm Systems. Sind Sie zu Hause?«
Karen brauchte eine Weile, bis ihr die Alarmanlage mit dem teuren Überwachungssystem einfiel, die sie nach dem ersten Brief vom Bösen Wolf im Haus installiert hatte.
»Nein, ich bin unterwegs. Was gibt es für ein Problem?«
»Ihr System zeigt an, dass jemand bei Ihnen gewaltsam eingedrungen ist. Und Sie sind im Moment nicht zu Hause?«
»Nein, verdammt, sagte ich doch. Was für ein gewaltsames Eindringen?«
»Vorschriftsgemäß muss ich Sie auffordern, nicht nach Hause zurückzukehren, bevor ich die Polizei verständigt habe, damit die Beamten sich vor Ihrem Haus mit Ihnen treffen und Sie hineinbegleiten können. Falls noch jemand im Haus ist, wollen wir schließlich nicht, dass Sie einen Straftäter in flagranti überraschen. Das ist Aufgabe der Polizei.«
Karen versuchte, etwas zu erwidern, brachte aber kein Wort heraus.
In der Kurve zu ihrer Einfahrt wartete bereits ein Streifenwagen. Sie hatten einen jungen Beamten abgestellt, der auf sie wartete. Er lehnte lässig an seinem Fahrzeug und schien es nicht eilig zu haben.
»Ich bin die Eigentümerin«, sagte Karen, während sie die Scheibe herunterließ. »Was ist passiert?«
»Können Sie sich bitte ausweisen?«, fragte der Cop.
Sie hielt ihm ihren Führerschein hin. Er nahm ihn, offenbar ohne das Zittern ihrer Hand zu
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