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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Entscheidung. Und dann mag geschehen, was will.
    Und seltsamerweise tat ihr der Gedanke gut, denn einen flüchtigen Moment lang hatte sie das Gefühl, ihr toter Mann und ihre tote Tochter wären vielleicht ein wenig stolz auf sie.
     
    Jordan lag eingerollt auf ihrem Bett und war wie erstarrt. Es schien ihr fraglich, ob sie sich je wieder rühren würde. Doch als sich die Sekunden zu Minuten dehnten und sie hörte, wie einige der anderen Mädchen vom Essen kamen – erhobene Stimmen, krachende Türen, plötzliches lautes Gelächter und ein aufgesetztes Jammern, mit dem sich jemand über den Kummer einer anderen lustig machte –, löste sich die Starre. Nach einer Weile richtete sie sich auf und setzte sich auf den Bettrand. Dann nahm sie den Brief und las ihn erneut.
    Fast hätte sie gelacht.
    Glaubst du etwa, du wärst der einzige Böse Wolf in meinem Leben?
    Stell dich hinten an, dachte sie. Alle anderen – von ihren ständig streitenden Eltern bis zu den Lehrern am College und ihren ehemaligen Freunden, die sie ausnahmslos im Stich gelassen hatten – waren ohnehin schon dabei, ihr den Garaus zu machen. Und jetzt kam ein anonymer Witzbold dazu.
    Plötzlich spürte sie, wie sie aufbegehrte, rebellierte. Sie ging davon aus, dass der Verfasser dieses Briefs sie nur aufziehen wollte. Internatsschüler konnten unglaublich erfinderisch und unglaublich grausam sein. Jemand wollte, dass sie auf eine Art und Weise reagierte, die ihm Vergnügen bereitete. Oder auch ihr. Sie beschloss, Mädchen nicht von vornherein auszuschließen, nur weil der Verfasser ihr Gewalt androhte. Einige ihrer Klassenkameradinnen konnten ganz schön Schläge austeilen.
    Leck mich, dachte sie, egal wer du bist.
    Jordan hielt den Brief in der Hand und ging ihn langsam noch einmal durch, so wie sie es früher getan hatte, um eine detaillierte Frage oder eine schwierige Klausuraufgabe zu verstehen.
    Die Worte auf dem Blatt schienen ihr ins Gesicht zu springen. Der Briefschreiber klang nicht jung. Der Ton war durchdacht und ausgefeilt, wie sie es keinem ihrer Klassenkameraden zutrauen würde. Andererseits wusste Jordan, dass sie besser keine vorschnellen Schlüsse zog. Nur weil es nicht so klang, als hätte es ein Jugendlicher geschrieben, schloss das diese Möglichkeit noch lange nicht aus. Wie Jordan hatten auch andere im Englischunterricht die Sprache von Hemingway und Faulkner, Proust und Tolstoi verinnerlicht. Manche von ihnen waren durchaus zu einer ausgefeilten Prosa fähig.
    Sie trat durch das Zimmer zu ihrem kleinen Arbeitsplatz. Schreibtisch. Laptop. Ein Becher mit Bleistiften und Kugelschreibern, ein Stapel unbenutzter linierter Blöcke. In einer der oberen Schubladen fand sie einen beigefarbenen Ordner, in dem sie vereinzelte Notizen aus dem Unterricht sammelte. Sie packte den Brief hinein.
    Und nun? Wie geht’s jetzt weiter?
    Jordan fröstelte plötzlich. Ihr wurde bewusst, dass sie wenig machen konnte oder sollte, ein Satz aus dem Brief aber stach ihr ins Auge: »Es wäre ratsam, das zu beherzigen …«
    Sie nickte.
Na schön. Du willst, dass ich die ursprüngliche Geschichte von Rotkäppchen kennenlerne? Wieso nicht, das lässt sich machen.
     
    Es war Zeit fürs Basketballtraining. Sie wusste, dass ihr, wenn sie sich auf dem Spielfeld abgerackert und eine Dusche genommen hatte, genügend Zeit blieb, in die Schulbibliothek zu gehen und sich die Gebrüder Grimm vorzunehmen. Da sie sowieso dabei war, alles zu vermasseln, sprach in ihren Augen nichts dagegen, ihre Zeit mit der Analyse eines jahrhundertealten Märchens zu verbringen, weil sie von einem durchgeknallten Mörder verfolgt wurde oder irgendein Klassenkamerad es lustig fand, ihr einen ausgeklügelten Streich zu spielen.

[home]
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    Z u schade, dachte der Böse Wolf, dass er nicht dabei sein und seine Rotkäppchen beobachten konnte, wenn sie seine Botschaft lasen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich ihre Reaktionen auszumalen – sich jede von ihnen vor Augen zu führen und die emotionalen Achterbahnfahrten durchzuspielen, die sie erleben würde.
    Rote Eins ist wütend.
    Rote Zwei ist verwirrt.
    Rote Drei hat Angst.
    Er nahm sich einen Moment Zeit und betrachtete die etwas verwackelten Fotos der drei Frauen, die er mit Teleobjektiv aufgenommen hatte. An der Wand über seinem Computer hingen mindestens ein Dutzend Bilder von jeder Roten, dazu Karteikarten mit Informationen. Monate der Observierung – aus der Distanz und doch hautnah – waren dort dokumentiert.

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