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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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lassen. Mit ein bisschen Mut hätte sie sich einer sinnvollen Aufgabe gewidmet, zum Beispiel an der Sonderschule im Stadtzentrum zu unterrichten oder im Gedenken an ihren toten Mann und ihr totes Kind ehrenamtliche Arbeit zu leisten und in den Sudan zu gehen, um Aids-Waisen zu helfen.
    »Aber ich bin nicht mutig«, sagte sie. Manchmal konnte sie nicht sagen, ob sie laute Selbstgespräche führte oder etwas nur dachte. Und manchmal redete sie lange und ausgiebig mit sich und platzte zum Schluss mit irgendeinem Satz heraus, der nur für sie selbst Sinn ergab. »Eindeutig nicht mutig.«
    Trotzdem, dachte sie, brauche ich die Waffe.
    Wahrscheinlich war das noch ein letztes, kümmerliches Gen aus der Pionierzeit, das in ihr schlummerte. Jemand bedrohte sie, und wie ein Cowboy in einem Western griff sie nach der Waffe.
    Sie hielt noch einen Moment in der Tür inne und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen – dann trat sie entschlossen vor, um es möglichst schnell hinter sich zu bringen. Es war, als ob sie, indem sie sich hier umsah, mit jedem Gegenstand, auf den ihr Blick fiel, eine Erinnerung heraufbeschwor, die sie ein weiteres Mal zu strafen schien. Sie war mit wenigen Schritten am Bücherregal, schob die Romane beiseite, holte den verstaubten Kasten herunter, der dahinter zum Vorschein kam, und trat so schnell wie möglich den Rückzug an. Erleichtert knallte sie die Tür hinter sich zu.
    »Tut mir leid, Teddy, Liebling, aber ich halte es da drinnen einfach nicht aus.«
    Sie wusste, dass sie halb gedacht, halb geflüstert hatte.
    Den olivgrauen Munitionskasten unter dem Arm, hielt sie sich die andere Hand seitlich ans Gesicht, um nicht in das Zimmer ihrer toten Tochter sehen zu müssen. Noch eine Unterhaltung mit einem Geist hätte sie an diesem Tag nicht verkraftet, und so huschte sie durch den Flur zurück in die Küche.
    Sie war immer noch nackt. Doch seit sie die Waffe in der Hand hielt und seit ihr die Worte des Drohbriefs im Kopf herumschwirrten, empfand sie plötzlich Scham. Sie hob ihre Kleider vom Boden auf und schlüpfte wieder hinein.
    Dann nahm sie den Brief und legte ihn neben dem Munitionskasten auf einen Beistelltisch im Wohnzimmer. Sie öffnete den Kasten mit der Kombination und griff hinein. Neben einer Schachtel mit Hohlspitzgeschossen lag ein kalter, schwarzer Colt Python . 357  Magnum.
    Sie holte den Revolver heraus und nestelte einen Moment daran herum, bis die Kammer aufsprang und sie sich davon überzeugen konnte, dass das Ding nicht geladen war. Vorsichtig legte sie sechs scharfe Patronen in den Zylinder ein.
    Die Waffe erschien ihr unglaublich schwer, und sie fragte sich, wie irgendjemand die Kraft aufbringen konnte, sie hochzuheben, anzulegen und damit zu schießen. Sie benutzte beide Hände und nahm die Schießstellung ein, wie sie es aus Fernsehmelodramen kannte. Es half zwar, die Waffe mit beiden Händen zu halten, war aber trotzdem schwierig.
    Eine Männerknarre, dachte sie. Teddy hätte sich nie mit etwas anderem zufriedengegeben. Ein Handtaschenpistölchen wäre nichts für ihn gewesen.
    Bei dem Gedanken musste sie schmunzeln.
    Sie senkte den Blick auf den Brief.
    Du wurdest auserwählt zu sterben.
    Sarah legte die Waffe auf das Blatt.
    Mag ja sein, antwortete sie dem Fremden da draußen, der vorhatte, sie zu töten, aber ich bin ohnehin halb tot, und bei mir kriegst du es mit einem Rotkäppchen zu tun, das sich wehrt. Ich schlage zurück. Also, worauf wartest du? Versuch’s nur, wir werden ja sehen.
    Sarah staunte selbst über ihre Reaktion – das genaue Gegenteil von dem, was sie typischerweise von sich erwartet hätte. Die Logik sagte ihr, dass sie, da sie sowieso sterben wollte, gar nichts unternehmen und dem Bösen Wolf einfach die Tür öffnen würde, damit er sie tötete und aus ihrem Elend befreite.
    Doch stattdessen drehte sie den Zylinder der Waffe, der mit einem klickenden Geräusch zum Stillstand kam.
    Also, dann ziehen wir mal Bilanz. Ich mag zwar allein sein, aber ich bin es nicht wirklich.
Es wäre ihr nicht im Traum eingefallen, ihre alten Eltern um Hilfe zu bitten, die im Osten des Bundesstaates lebten, oder auch jemanden von den Leuten, die sie einmal als ihre Freunde betrachtet hatte und jetzt ignorierte. Sie wollte auch nicht die Polizei anrufen oder einen Anwalt oder Nachbarn. Nein, sie würde sich demjenigen, der sie zu seiner Zielscheibe machte, alleine stellen. Das mag verrückt sein, räumte sie in Gedanken ein, aber es liegt in deiner Hand, es ist deine

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