Der Wolf
aber nicht. Da hat sich alles gegen dich verschworen. Am meisten stehst du dir selbst im Weg – weil du nicht über deinen eigenen Schatten springen kannst. Das hier hat mit dem, was wir sind, nichts zu tun. Ich bin Ärztin, verflucht noch mal, keine Einbruchskünstlerin. Und eine Mörderin schon gar nicht.
Sie hielt den Gummihammer in der Hand, bereit, das Haus zu stürmen, als Sarah sie genau in dem Moment, als sie zum Schlag ausholte, mit aller Macht am Arm festhielt. Karen hörte, wie ihre Komplizin heftig nach Luft schnappte.
Sarah sagte nichts, sondern deutete nur stumm auf ein Fenster, hinter dem sie die Küche vermutete, mit einem Schild in der Scheibe. Sie las: Alpha Alarm Systems.
Karen fühlte sich einen Moment benommen, doch die offensichtliche Ironie entging ihr nicht: Dies war dieselbe Firma, die sie nach dem ersten Brief des Wolfs mit der Alarmanlage an ihrem eigenen Haus beauftragt hatte.
Sie zögerte. Dann flüsterte sie: »Also gut, Folgendes: Wir brechen ein, das löst bei der Firmenzentrale einen stummen Alarm aus. Sie rufen beim Eigentümer an, der mit einem vereinbarten Signal reagieren muss, das entweder bedeutet,
Alles in Ordnung, Fehlalarm,
oder
Es gibt Probleme.
In dem Fall ruft die Firma die Polizei, die in wenigen Minuten da ist.«
Sarah nickte. Die beiden Roten waren für einen Moment wie vor den Kopf gestoßen.
»Was sollen wir machen?«, fragte Sarah.
»Wenn ich das wüsste«, erwiderte Karen. Ihr wurde bewusst, dass ihr Risiko mit jeder Sekunde, die sie draußen blieben und die Jordan allein in ihrem Versteck vor der Haustür saß, sprunghaft stieg. Es war, als sähe man im Labor unter dem Mikroskop zu, wie sich gefährliche Zellen vereinten, vergrößerten, vermehrten und immer komplexere Strukturen bildeten.
»Entscheide dich«, sagte Sarah. »Vor oder zurück.«
In dem Moment erfasste Karen eine schwelende Wut.
Wenn wir wegrennen, laufen wir vielleicht geradewegs in den Tod. Vielleicht nicht heute Nacht. Vielleicht morgen. Oder übermorgen. Oder nächste Woche. Oder in einem Monat. Wir werden es niemals wissen.
Sie holte tief Luft. »Hast du deinen Revolver?«, fragte sie.
»Ja.«
»Gut. Sobald wir drin sind, rennst du ins Schlafzimmer hoch. Ich bin direkt hinter dir. Ich lass zuerst Jordan rein. Und, Sarah …«
»Was?«
»Nicht zögern.«
Sarah nickte. Leichter gesagt als getan.
Unausgesprochen blieb, wobei sie nicht zögern sollte.
Sie beide zu töten? Einfach das Feuer zu eröffnen? Und wenn er nun nicht der Wolf ist?
Karen wusste, dass sie die blanke Panik überwältigen würde, wenn sie auch nur einen Moment länger wartete. Sie packte den Gummihammer und holte kräftig aus.
Vor dem Haus hörte Jordan das Klirren von Glas. Hatte sie eben noch ihren eigenen Atem tosen gehört, so erschien ihr das Geräusch, das von der Rückseite kam, wie eine gewaltige Explosion. Sie zuckte zurück und klammerte sich mit der Verzweiflung des Ertrinkenden an das dunkle Gebüsch.
Eine Scherbe riss einen Fetzen in Karens Sweatshirt. Einen Moment lang fürchtete sie, sie hätte sich den Arm aufgeschlitzt, und sie stieß einen kehligen Laut aus. Jeden Augenblick rechnete sie damit, dass dunkles, arterielles Blut durch den Stoff sickern würde. Doch nichts dergleichen geschah, was ihr wie ein Wunder erschien. Nicht einmal einen Kratzer hatte sie abbekommen. Sie griff in das zerbrochene Fenster und legte den Riegel um. In wenigen Sekunden stürzte sie zur offenen Tür hinein.
Sarah drängte an ihr vorbei. Sie rannte, die Taschenlampe in einer Hand, die Waffe in der anderen, ins Haus und schwenkte wie besessen den Lichtstrahl hin und her.
Nach oben und nach rechts. Nach oben und nach rechts.
Sarah war nicht sicher, ob sie das dachte, sagte, schrie oder sang. Sie stürzte voran, die Treppe hoch.
Karen eilte zur Eingangstür und fummelte an den Schlössern herum. Sie brauchte eine Sekunde, dann riss sie die Tür auf.
»Jordan, komm!«, flüsterte sie so eindringlich, wie sie konnte.
Jordan hockte immer noch in ihrem Versteck neben der Treppe. Die Nacht schien sich wie eine Schlingpflanze um sie zu legen und sie so einzuschnüren, dass sie sich nicht bewegen konnte. Sie erteilte ihren Muskeln Befehle, doch die befolgten sie nicht. Im nächsten Moment aber sah sie – als schwebe sie wie eine Art Geist plötzlich in der Luft und sähe sich von oben zu –, wie die fremde Jordan aufstand und so schnell ins Haus stürmte, dass sie fast über die Eingangsstufen stolperte.
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