Der Wolf
unerträglich schienen und schnelles Handeln erforderlich war, um Leben zu retten, hatte sie festgestellt, dass sie in fast übermenschlichem Maße die Ruhe bewahrte. Je schlimmer das Chaos um sich griff, desto langsamer wurde ihr Puls. Sie war der Meinung, dass sie auf den Drohbrief genauso reagieren sollte wie auf das Eintreffen eines übel zugerichteten Unfallopfers, das mit dem Tode rang.
Sie betrachtete sich, ungeachtet ihrer komödiantischen Seite, als zutiefst rationalen Menschen. Doch seit sie den Brief erhalten hatte, lag ihr jeder Gedanke an eine Comedynummer fern. Kein Witz, kein Sarkasmus, kein Wortspiel oder satirischer politischer Kommentar – nichts von dem, womit sie gewöhnlich ihre Auftritte bestritt – war ihr eingefallen.
Nachts hatten sie Alpträume gequält, so dass sie tagsüber müde und gereizt war.
Sie lehnte sich zurück und wippte auf ihrem Schreibtischstuhl.
Karen wollte handeln, sah jedoch nicht, wie sie sich am besten wehren konnte. Es war ein schreckliches Gefühl: kaum zu ertragen, wenn man den richtigen Augenblick abpassen wollte, aber nicht wusste, wie.
Sie schüttelte mehrfach den Kopf, als sei sie mit ihren eigenen Überlegungen nicht einverstanden. In dem Moment ging die Tür zu ihrem Sprechzimmer auf.
»Entschuldigen Sie, Doktor, ich wollte nicht stören …«
»Nein, nein, kein Problem. Ich war nur ein bisschen in Gedanken.«
Karen sah ihre Assistentin an. Sie waren nur zu dritt in ihrer kleinen Praxis: Eine junge Krankenschwester, die das College erst seit zwei Jahren hinter sich hatte; sie trug ein Tattoo mit einer aufgehenden Sonne im Nacken und hatte Karen erst kürzlich verlegen gefragt, wie man es entfernen lassen könne. Und ihre langjährige Rezeptionistin, eine ältere Frau, die viele der Patienten und ihre Leiden weit besser kannte als Karen.
»Letzte Patientin für heute«, sagte die Schwester. »Sie wartet schon seit ein paar Minuten in der Zwei und …«
Sie brach den Satz ab, bevor ihr auch nur der Anflug eines Vorwurfs über die Lippen kam. Karen begriff zweierlei: Die Schwester wollte nach Hause zu ihrem Freund, dem Notarzt, und sie sollte die letzte Patientin des Tages nicht warten lassen, egal wie durcheinander sie war.
Karen holte tief Luft und sprang vom Stuhl. Sie wechselte in den Modus der aufmerksamen Ärztin.
»Es ist nur eine routinemäßige Nachuntersuchung«, erklärte die Schwester, »sie war bereits bei ihrem Kardiologen. Sie finden seinen Bericht in der Akte. Ihr geht es gut. Reine Vorsichtsmaßnahme, nichts Besonderes.«
Damit reichte sie Karen das Klemmbrett mit den Unterlagen. Karen erhob sich vom Schreibtisch und warf nicht einmal einen Blick auf die Akte, da sie sich dafür schämte, eine Patientin unnötig warten zu lassen. Sie strich sich den weißen Kittel glatt und eilte den Flur entlang zum Untersuchungszimmer.
Die Patientin saß in einem OP -Kittel auf der Untersuchungsliege und lächelte ihr entgegen.
»Hallo, Doktor«, sagte sie.
»Hallo, Mrs. …« Karen warf einen verstohlenen Blick auf den Aktendeckel mit dem Namen der Frau. Sie nannte ihn ein wenig überhastet, um zu überspielen, dass sie die Frau nicht wie gewohnt so begrüßte, als hätte sie den ganzen Tag mit den gesundheitlichen Problemen dieses einen Patienten verbracht.
Das gab ihr zu denken. Normalerweise fiel es ihr leicht, sich die Namen ihrer Patienten zu merken, und im Stillen haderte sie mit sich. Sie wusste, dass Stress zuweilen Erinnerungslücken verursachte. Die Vorstellung, dass eine anonyme Drohung ihren Alltag derart beeinträchtigen konnte, war ihr zuwider.
Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, dass sie die Frau passender mit »Hallo, Mrs. Böser Wolf« hätte begrüßen sollen.
Ebenso wenig ahnte sie, dass in ihrem kleinen Wartezimmer, mit einer alten Ausgabe des
New Yorker,
der Mann saß, der sich insgeheim einen Blick auf die Ärztin erhoffte, die er als
Rote Eins
bezeichnete.
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6
Der Tod ist das große Spiel, das jeder spielt und jeder beim Abpfiff verliert. Mord dagegen ist etwas anderes, denn er ähnelt eher jenem Moment innerhalb eines Spiels, in dem sich der Ausgang entscheidet. Wir sitzen auf der Tribüne, ohne zu wissen, wann diese Sekunde gekommen ist. Ist es dieses Tor oder jener Freiwurf oder der Augenblick, in dem der Abwehrspieler sein Tackling nicht schafft? Vielleicht ist es der Moment, in dem der Schiedsrichter in seine Trillerpfeife bläst und auf den Elfmeterpunkt zeigt. Mord hat mehr mit Sport gemein, als
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