Der Wolf
sich die Menschen träumen lassen. Mord hat seine eigene Stoppuhr und seine eigenen Regeln. Wie beim Sport geht es um Vorbereitung und Zielstrebigkeit. Es geht darum, Hindernisse zu überwinden. Einer will leben. Einer will töten. Das ist das Spielfeld.
Er betrachtete die Worte auf dem Computerbildschirm. Gut, dachte er, wenn jemand das liest, wird es ihm dämmern.
Karen wachte zur gewohnten Zeit, kurz bevor der Wecker klingelte, um sechs Uhr früh nach einer Nacht unruhiger Träume auf. Sie hatte schon immer diese innere Uhr gehabt, die ihr sagte, wann sie aus den Federn musste, und es war immer kurz vor dem Weckdienst des Hotels oder dem Schrillen des Weckers. Gewöhnlich drehte sie sich auf die Seite, stellte den Wecker ab, setzte sich unter der handgenähten Steppdecke, die sie vor einigen Jahren auf einem Kunstgewerbemarkt erstanden hatte, auf und ging zu einer rosafarbenen Gymnastikmatte, die in der Schlafzimmerecke auf sie wartete. Nach genau einer Viertelstunde Yogaübungen nahm sie eine Dusche, während in der Küche bereits der Kaffee durch den Automaten sickerte. Die Kleider für den Tag hatte sie nach einem Blick auf den Wetterbericht bereits am Vorabend herausgelegt. Routine, davon war sie überzeugt, verschaffte ihr Spielraum, auch wenn ihr an dem einen oder anderen Morgen Zweifel kamen, ob die Devise stimmte.
Manchmal hatte sie das Gefühl, als stünde ihre Welt auf dem Kopf oder sei auf links gedreht. Ihr Organisationstalent widmete sie ganz ihrer ärztlichen Tätigkeit, während sie ihr komödiantisches Hobby als Befreiung empfand. Zwei Karens, dachte sie, die sich vielleicht nicht mal erkennen würden, falls sie sich über den Weg liefen. Die Komikerin, die kreativ, spontan und schlagfertig war, und die Internistin, die sich ihrer Arbeit und den Patienten widmete, indem sie zuverlässig, gut organisiert und so präzise arbeitete, wie es die jeweilige Krankheit erlaubte. Ihre beiden Seiten schienen wenig gemein zu haben, waren aber über die Jahre recht gut miteinander zurechtgekommen.
An diesem Morgen fragte sie sich, ob sie vielleicht eine dritte Karen brauchte.
Statt sofort aufzustehen, legte sie sich unentschlossen noch einmal auf den Rücken. Die beiden Katzen, die zugunsten von Karens Steppdecke oft ihr eigenes Lager verschmähten, schienen sie argwöhnisch zu beäugen, da sie es gewöhnt waren, dass Karen zügig aus dem Bett sprang.
Sie spähte zu dem Bedienungsfeld der Alarmanlage hoch, das zwei Tage nach Erhalt des Drohbriefs vom Bösen Wolf an der Schlafzimmerwand installiert worden war. Es blinkte rot und zeigte damit an, dass die Anlage eingeschaltet war und funktionierte. Sie fühlte sich seltsam unbehaglich. Sie musste aufstehen und sie ausschalten, damit die Bewegungsmelder, die sich in sämtlichen Ecken und Winkeln des Hauses befanden, nicht sie selbst erfassten statt des fiktiven Bösewichts, den sie mit ihrem Alarmsignal verraten sollte. Es war Zeit, den Tag anzugehen, doch stattdessen blieb sie liegen.
Berechenbarkeit ist mein Feind, dachte sie.
Ein Unbekannter schickt dir einen Drohbrief, und du tust haargenau das, was dir jedes Buch, jede Website raten würde, um dich zu schützen. Die naheliegenden Dinge. Eine Checkliste. Ein Anruf bei der Polizei. Die Bitte an die Nachbarn, die Augen offen zu halten – die einsame Lage ihres Hauses erwies sich als hinderlich, doch pflichtbewusst hatte sie bei den nächsten Nachbarn angerufen.
Kurze Telefonate, in denen sie geradewegs zur Sache gekommen war.
»Hi, hier ist Karen Jayson vom Ende der Straße. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich eine anonyme Drohung erhalten habe. Nein … Nein, die Polizei glaubt nicht, dass etwas Ernstes dahintersteckt, ich wollte nur den einen oder anderen Nachbarn bitten, die Augen offen zu halten, falls Ihnen etwas Ungewöhnliches auffällt. Zum Beispiel fremde Autos, die an der Straße parken oder so. Danke …«
Sie war auf Anteilnahme und Hilfsbereitschaft gestoßen. Und
natürlich
würden sie auf verdächtige Dinge achten. Die Familien mit kleinen Kindern hatten mit Sorge reagiert und überlegt, ob sie die Kinder im Haus halten sollten, bis sich diese unsichtbare Bedrohung wie ein Ölteppich auf dem Ozean wieder verflüchtigt hatte. Bei dem lausigen Wetter bezweifelte Karen ohnehin, dass es die Kinder nach draußen drängte.
Ihr nächster Anruf hatte dem Hersteller der Alarmanlagen gegolten, der prompt einen übereifrigen Handwerker schickte. Dieser Mann hatte während der
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