Der Wolf
kleinen Schirm zu öffnen, bevor sie durchnässt war.
Im nächsten Moment trat sie in eine Pfütze und fluchte. Dann eilte sie mit gesenktem Kopf zum Verwaltungstrakt des Internats.
Sie hängte ihren nassen Mantel an einen Haken neben der Tür und setzte sich in der Hoffnung, dass der Direktor die kleine Verspätung nicht bemerkt hatte, hinter ihren Schreibtisch.
Er kam aus seinem Büro – über dessen Zugang sie an ihrem Schreibtisch wachte – und schüttelte den Kopf, allerdings nicht über ihr unpünktliches Erscheinen oder das lausige Wetter, in dem die Schule trübe und öde wirkte. Vielmehr hatte er eine Akte in der Hand und schien darüber ungehalten.
»Können Sie Miss Jordan Ellis eine Nachricht schicken?«, fragte er. »Sie soll heute Nachmittag in einer Freistunde zu mir kommen oder vielleicht nach ihrem Basketballtraining?«
»Selbstverständlich«, antwortete Mrs. Böser Wolf. »Ist es dringend?«
»Immer das gleiche Lied«, antwortete der Direktor betrübt. »Sie ist in sämtlichen Fächern abgesackt, und jetzt wollen Mr. und Mrs. Ellis mich zum Schiedsrichter in ihrem Kampf ums Sorgerecht machen, was die Situation nur verschlimmern wird.« Er lächelte müde. »Wäre es nicht schön, wenn einige dieser Eltern ihre Kinder einfach in Ruhe ließen, damit wir uns um sie kümmern können?«
Die Klage hörte sie nicht zum ersten Mal, doch sein Stoßgebet war nie erhört worden.
»Ich kümmere mich drum, dass sie heute zu Ihnen kommt«, erwiderte Mrs. Böser Wolf.
Der Direktor nickte. »Danke«, sagte er. Er warf noch einen Blick auf das Papierbündel in seiner Hand und zuckte die Achseln. »Ist es nicht furchtbar, wenn die jungen Leute ihre Zukunft wegschmeißen?«, fragte er. Es war eine rhetorische Frage, und Mrs. Böser Wolf wusste, dass keine Antwort von ihr erwartet wurde. Selbstverständlich fand es jeder schlimm, wenn Schüler kurz vor dem Abschluss in ihren Leistungen nachließen. Sie taten sich am College schwer und landeten an den schlechteren Unis, was die Ivy-League-Statistik ihrer Schule negativ beeinflusste. Sie sah ihm hinterher, als er wieder in seinem Büro verschwand. Die Akte mit all dem vertraulichen Material, die er in der Hand hielt, würde früher oder später auf ihrem Schreibtisch landen, damit sie die darin enthaltenen Papiere in einem großen schwarzen Stahlschrank in der Ecke ihres Büros unterbrachte. Er war mit einem Zahlenkombinationsschloss gesichert. 8 - 17 - 96 . Ihr Hochzeitstag.
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9
S arah Locksley rutschte nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Sie war benommen, zappelig, erschöpft und energiegeladen zugleich, als wäre sie in der besonderen Lage, die beiden entgegengesetzten Zustände in Einklang zu bringen. Jede Sekunde, die verging, war langweilig und aufregend zugleich. Sie hatte das Gefühl, dass etwas Entscheidendes passieren würde. Sei es, dass sie für vierundzwanzig Stunden in Ohnmacht fiele oder auf den erstbesten Menschen, der vor ihrer Tür stünde und klopfte – was seit Wochen keiner mehr getan hatte –, anlegen und schießen würde.
In den letzten Tagen hatte sie sich von rezeptfreien Aufputschpillen, Stolichnaya-Wodka und frisch gepresstem Orangensaft sowie einem großen Vorrat an Schokoriegeln, eingeschweißten Donuts, Gebäckteilchen und hier und da einer mit Erdnussbutter bestrichenen Banane ernährt. Dickmacher, Kalorienbomben, doch sie hatte den Eindruck, als hätte sie kein Gramm zugenommen.
Sie hatte einen Stuhl an eine Stelle gerückt, von der aus sie sowohl die Straße vor dem Haus als auch den Kücheneingang an der Rückseite im Blickfeld hatte, und sich außerdem aus ein paar Kissen und einem alten Schlafsack ein Lager hergerichtet, so dass sie, wenn sie der Schlaf übermannte und sie sich wenigstens nachts ein paar Stunden gönnte, trotz Tabletten und Alkohol hinübertaumeln konnte. Um ihr Schlafzimmer machte sie einen großen Bogen. Es ängstigte sie, sich in einem Zimmer zu verstecken, das sie mit ihrem Mann geteilt hatte. Mit einem Mal erschien es ihr wie ein Gefängnis, und sie war entschlossen, sich nicht an einem Ort umbringen zu lassen, an dem sie einmal so viel Glück erlebt hatte.
Sie wusste, wie verrückt das war, doch es machte ihr nichts aus, verrückt zu sein.
Sie hatte eine selbstgebastelte Alarmanlage an der Küchentür installiert, indem sie eine Schnur quer über den Eingang gespannt und leere Dosen und Töpfe daran befestigt hatte, so dass jeder, der dort einbrach, sich mit schepperndem Getöse
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