Der Wolf
wie eine Art existentialistischer Held.
Grendel, dachte er. Hannibal Lecter. Raskolnikow. Meursault.
Ich entspreche nicht dem landläufigen Bild des Attentäters, auch wenn wir viele Eigenschaften miteinander teilen. Bei einem Attentäter steht ein gewisses Maß an politischem Zorn hinter seiner Tat. Ob es nun John Wilkes Booth ist, der vom Balkon auf die Bühne springt und »Sic semper tyrannis!« schreit, oder ob in Sarajevo ein Anarchist auf den Erzherzog zielt, oder ob es sich um ein Komplott der Borgia handelt, bei denen der Tod die probate Methode war, die Macht zu sichern. Für einen Attentäter heiligt das Ziel die Mittel. Das mag auch auf mich und meine drei Roten zutreffen, und auf viele andere Mörder – der Unterschied liegt allerdings in der praktischen Ausführung. Der Attentäter richtet sich im Schulbuchdepot auf dem sechsten Stock ein und zielt mit dem Lauf seines Karabiners Carcano 6 , 5 auf den Kopf des Präsidenten; während er langsam abdrückt, erinnert er sich an seine Ausbildung im Marine Corps. »Red Mist« nennen sie einen solchen Kopfschuss heute in Schützenkreisen. Für mich dagegen ist das der leichteste Moment. Die Vorarbeit ist der aufregende Teil, bis man am Ende die Früchte erntet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einem Attentäter die Planung der Tat so viel Freude bereitet wie mir. Vielleicht ist es der Unterschied zwischen Vorspiel und Orgasmus, zwischen einem einfühlsamen Liebhaber und einem, der nur zum Höhepunkt kommen will. Vielleicht.
Der entscheidende Unterschied zwischen einem Attentäter und mir ist jedoch meine intime Vertrautheit mit den Opfern. Wir mögen beide unsere Zielperson genau beobachtet haben, doch der Attentäter hasst, was er töten will, er will eine vermeintlich wichtige Botschaft vermitteln. Alles, was er tut, zielt auf diesen Moment. Ein Tod wird geplant, um ein Vakuum zu schaffen, das danach im Sinne des Attentäters gefüllt werden soll. Dieser Ansatz engt ein. Meine Vorgehensweise bei den drei Roten ist weitaus radikaler. Mein Plan kennt keine politische Beschränkung. Was ich schaffe, hat mehr mit Kunst als mit Politik zu tun. Auch ich will der Welt wichtige Einsichten vermitteln, doch eher mit ein paar kräftigen Pinselstrichen als mit vielen Worten. Jedenfalls werde ich von keinem Balkon springen und brüllen: »Der Süden ist gerächt!« Doch in nicht allzu weiter Ferne werde ich ebenso berühmt sein.
Für mich geht es nicht um Hass. Vielmehr bin ich in meine drei Roten verliebt.
Dabei ist jede Liebe anders.
Und jede von ihnen wird anders sterben müssen.
Ein kräftiger Duft nach Speck strömte ins Arbeitszimmer. Der Böse Wolf reckte den Kopf und hörte das Brutzeln aus der Küche. Gleich würde das leisere Geräusch vom Rühren und Braten der Eier dazukommen, wenig später das Klicken, wenn der Toaster die fertigen Scheiben auswarf, wahrscheinlich Sauerteigbrot, das Mrs. Böser Wolf in ihrem elektrischen Backautomaten machte und das, wie sie wusste, sein Lieblingsbrot war.
Mrs. Böser Wolf liebte es, ein großes Frühstück zuzubereiten. Die wichtigste Mahlzeit am Tag. Die Formulierung hatte er aus dem Film
Eine ganz normale Familie
in Erinnerung. Wann war der noch gleich in die Kinos gekommen? Vor zwanzig Jahren? Dreißig? Donald Sutherland saß in dieser Villa Grosse Point dem jungen Timothy Hutton gegenüber und versuchte verzweifelt, seinem Sohn über den Kummer und die Ratlosigkeit hinwegzuhelfen, indem er ganz normale Alltagsroutinen aufrechterhielt. Allerdings ging der Versuch daneben, als Hutton zögerte und Mary Tyler Moore in der Rolle der kalten, zerrütteten Mutter, ihrem Sohn das Frühstück wegnahm und in den Mülleimer kippte.
Der Wolf hatte die Szene vor Augen. Es waren Pfannkuchen, dachte er. Die Schauspielerin hatte Pfannkuchen gemacht. Vielleicht auch Arme Ritter. Jede Wette. Dann kamen ihm Zweifel. Es könnten auch Waffeln gewesen sein.
Pfannkuchen mochte er nicht besonders. Sie bereiteten ihm ein Völlegefühl und machten ihn träge, es sei denn, es gab echten Ahornsirup aus Vermont dazu, den man nur im Delikatessengeschäft bekam. Das gepanschte, süße Zeug, das die Supermarktketten führten, war ihm zuwider. Es schmeckte irgendwie nach Öl.
Wieder schmunzelte der Wolf. Ich bin ein Frühstücksgourmet und ein Mordconnaisseur.
Seine Frau rief nach ihm. Er verschlüsselte die letzten Dateien und fuhr den Computer herunter. Selbst die größten Mörder müssen essen, sagte er sich und stand auf. Auch wenn
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