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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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die das Wort »Schmerz« zu stark war, versetzte sie in Panik, und als ihr schwindelig wurde, hielt sie sich an der Kante der Arbeitsplatte fest. Einen Augenblick lang war ihr heiß, als hätte jemand in ihrem Körper eine Ofentür geöffnet, und sie schnappte nach Luft.
    Sie konnte nur einen einzigen Gedanken fassen: Nicht schon wieder.
    Sie atmete bewusst langsam,um ihren Puls zu normalisieren. Sie schloss die Augen und versuchte, ihre körperliche Verfassung einzuordnen. Ein wenig fühlte sie sich wie ein Mechaniker, der über einem Motor mit einem rätselhaften Defekt brütet.
    Sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie gerade erst bei ihrer Ärztin gewesen war, die ihr eine rundum gute Gesundheit bescheinigt hatte. Sie hatte sich dem routinemäßigen Abtasten und -klopfen unterzogen, Fragen beantwortet, den Mund weit geöffnet, sich die EKG -Kontakte an den Körper heften lassen und gewartet, bis der Apparat eine Beurteilung ausspuckte. Als ihre Ärztin sie dann lächelnd beruhigte, war es Musik in ihren Ohren gewesen, auch wenn ein Rest von Zweifeln blieb.
    Keinerlei Anzeichen.
    Fast hätte sie es laut gesagt.
    Das war das Problem, wenn man einen Herzfehler hatte. Man bildete sich ein, jeder kleine Stich und jeder unregelmäßige Schlag könnte das Ende signalisieren.
    Sie sagte sich, dass ihr Leben eigentlich nicht interessant genug war, um so paranoid zu sein.
    Mrs. Böser Wolf beugte sich über den Abtropfständer, auf den sie ein paar größere Bräter gelegt hatte, die nicht in die Spülmaschine passten. Sie griff nach einer großen Pfanne aus Edelstahl und hielt sie in die Höhe. In dem sauber geschrubbten Metall konnte sie sich spiegeln, nur dass ihr Gesicht darin ein wenig verzerrt erschien.
    Sie sagte sich: Du warst mal schön. Doch sie wusste, dass es nicht stimmte.
    Dann suchte sie nach Anzeichen von Schmerz. Nichts in den Augen; auch um die Mundwinkel nichts. Nicht die Spur in der schlaffen, fülligen Kinnpartie.
    Sie machte weiter. Keinerlei Anzeichen in den Füßen, in den Beinen, im Bauch.
    Sie hielt den Finger hoch und wackelte damit.
    Nichts. Kein plötzliches Brennen oder Stechen im Handgelenk.
    Als beträte sie ein gefährliches Minenfeld, wandte sie sich ihrer Brust zu. Sie atmete langsam ein und aus, während sie unverwandt ihr Gesicht im Stahl betrachtete, als handelte es sich dabei um eine andere Person, die ihr irgendwelche alarmierenden Anhaltspunkte verraten würde. Es gab Experten, die den Gesichtsausdruck von Menschen studierten, und Ermittler, die glaubten, jemandem vom Gesicht ablesen zu können, wann er log oder betrog oder auch nur eine Krankheit verbarg. Sie hatte Sendungen mit solchen Leuten gesehen.
    Doch ihr Atem war ruhig, ihr Herzschlag regelmäßig. Sie hielt sich die Finger an den Brustkorb und pochte sich gegen die Rippen. Nichts.
    Ihre Miene blieb ungerührt. Wie eine Pokerspielerin, dachte sie.
    Schließlich legte sie die Pfanne langsam zurück auf den Ständer.
    Nein. Es ist nichts, alles in Ordnung. Leichte Verdauungsstörungen. Dein Herz bleibt heute nicht stehen.
    Sie ermahnte sich, allmählich, nein, schnellstens zur Arbeit aufzubrechen und die Minuten wiedergutzumachen, die sie mit ihren Todesängsten verloren hatte.
    »Ich bin dann mal weg«, rief sie.
    Es folgte kurzes Schweigen, darauf eine gedämpfte Antwort aus dem abgeschlossenen Arbeitszimmer.
    »Kann sein, dass es bei mir ein bisschen später wird, bin zu Recherchen unterwegs, möglich, dass ich es nicht zum Abendessen schaffe.«
    Sie lächelte. Das Wort
Recherche
n munterte sie auf. Dann machte er wohl wirklich Fortschritte, und sie war klug genug, nichts zu tun, was diese prekäre Situation stören könnte.
    »In Ordnung, Schatz, dann weiß ich Bescheid. Ich stell dir einen Teller in die Mikrowelle, wenn du später heimkommst.«
    Mrs. Böser Wolf wartete keine Antwort ab, sondern war glücklich. Dies klang nach dem alltäglichsten Wortwechsel zwischen Eheleuten. Es war so normal, dass es ihr guttat. Der Schriftsteller war bei der Arbeit; und sie, die sich als Arbeitsbiene verstand, machte sich auf den Weg zu ihrem Dienst. In einer so ganz und gar normalen Welt war für einen Herzinfarkt einfach kein Platz.
    Sie fuhr zwei Mal den Personalparkplatz ab, bevor sie eine Lücke am hinteren Ende fand, auch wenn das fünfzig Meter Fußweg durch den eisigen Regen bedeutete. Das war nicht zu ändern, und so manövrierte Mrs. Böser Wolf ihren Wagen zwischen zwei Autos, griff nach ihrer Tasche und versuchte, einen

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