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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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sie nicht nur von Speck und Rührei und frisch gebackenem Sauerteigbrot leben.
    Diese Bemerkung gehörte in sein Manuskript, stellte er fest, doch das konnte warten. Auch musste er sich ein paar Ausreden gegenüber seiner Frau einfallen lassen. Er hatte einige Fahrten und Erledigungen auf dem Programm und konnte keine lästigen Fragen gebrauchen. Das machte für ihn einen besonderen Reiz aus: so normal wie möglich zu wirken, während große Dinge vor sich gingen. Die Hintergrundmusik zu meinem Leben, dachte er, ist eine einfache Sologeige. Keine mächtigen symphonischen Akkorde, die Aufmerksamkeit erregen. Er schmunzelte. Ebenso wenig kreischende Heavy-Metal-Gitarren.
    Durch den Flur hörte er ein fröhliches: »Essen auf dem Tisch, Speck mit Eiern.«
    »Komm gleich, Liebling«, rief er Mrs. Böser Wolf in freundlichem Ton zu, während er dem neuen Tag mit Spannung entgegensah.

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    8
    M rs. Böser Wolf deckte den Tisch ab und kippte die Essensreste in die Müllpresse, bevor sie Messer, Gabeln, Teller und Tassen in den Geschirrspülautomaten lud. Wie immer hatte ihr Mann an seinem Toast die Rinden säuberlich abgeschnitten. Seit fünfzehn Jahren sah sie diese traurigen Überbleibsel auf seinem Frühstücksteller, und obwohl sie das für Verschwendung hielt, sagte sie kein Wort zu seiner Extravaganz. Umgekehrt hatte sie die Rinden nie für ihn abgeschnitten, bevor sie ihm das Essen servierte, auch wenn sie wusste, dass er von seiner Gewohnheit keine Ausnahme machte.
    An diesem Morgen war sie für die Arbeit, der sie mehr aus Pflicht als aus Neigung nachging, ein wenig spät dran, und sie wusste, dass auf sie ein Schreibtisch voller banaler Tätigkeiten wartete, die sich bis zum Feierabend hinziehen würden. Sie schätzte, dass sich die Aufgabenliste, die ihren Terminkalender füllte, im Lauf eines Achtstundentags nur geringfügig lichten würde. Sie beneidete ihren Mann. Ihr Berufsleben schien sich in einer Häufung der immer gleichen Pflichten zu erschöpfen, derselben Tretmühle tagein, tagaus. Er dagegen war der Kreative in ihrer Beziehung. Er war der Schriftsteller; er war etwas Besonderes. Er war anders als alle Männer, die sie je gekannt hatte, weshalb sie ihn geheiratet hatte. Er brachte Farbe in ihre graue Welt, und sie genoss es jedes Mal aufs Neue, ihn ihren Kollegen vorzustellen und zu sagen: »Das ist mein Mann. Er ist Schriftsteller.« Manchmal machte sie sich Vorwürfe, wenn sie daran dachte, dass sie zu ihrer Beziehung nichts weiter beitrug als eine solide Krankenversicherung und ein regelmäßiges Einkommen sowie ein gelegentliches Intermezzo im Bett, doch dann verwarf sie den schrecklichen Gedanken und sagte sich, dass jeder große Schriftsteller, auch wenn es nach einem Klischee klang, eine Muse brauchte, und mit Sicherheit war sie das für ihn. Der Gedanke erfüllte sie mit Stolz.
    Manchmal stellte sie sich vor, sie wäre gertenschlank und in zarten Tüll gekleidet – so wie ein Maler vermutlich die
Inspiration
eines Schriftstellers darstellen würde. Dass sie klein und untersetzt war, mit mausbraunem Haar und einem Lächeln, das immer ein wenig schief geriet, egal wie viel Freude sie auszudrücken versuchte, hatte nichts zu besagen. Innerlich war sie schön, das wusste sie. Wieso hätten sie sich sonst ineinander verliebt und geheiratet?
    Und dass er es nach so vielen unproduktiven Jahren, so vielen literarischen Versuchen und Enttäuschungen in letzter Zeit kaum abwarten konnte, sich in das Zimmer, das er sich als Schreibstudio eingerichtet hatte, einzuschließen, versüßte ihr den Tag und erleichterte es ihr, zur Arbeit aufzubrechen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie neben dem Drucker der Stapel mit vollbeschriebenen Seiten Tag für Tag wuchs.
    Mrs. Böser Wolf wünschte sich oft, sie hätte so viel Phantasie wie er.
    Es wäre schön, dachte sie, in selbsterschaffenen Welten zu leben, in denen man bestimmte, was aus den Charakteren wurde. Man entschied, wer sich in wen verliebte. Man ließ jemanden sterben, wenn es einem passte. Man verteilte nach Belieben Erfolg und Misserfolg, Trauer und Glück. Was für ein wunderbarer Luxus.
    Sie stand am Spülstein und hielt in der Arbeit inne. Ihr lief das Wasser über die Hände, und sie wusste, dass sie das Geschirrspülmittel einfüllen und die Maschine anwerfen sollte, bevor sie zur Arbeit fuhr, doch in diesem Moment, in dem sie der Neid überkam, spürte sie auf der linken Seite, direkt unter der Brust, einen Stich. Die Empfindung, für

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