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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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zurück, Grundlinie bis zur Mittellinie und zurück, Grundlinie bis zur gegnerischen Freiwurflinie und zurück, von Grundlinie zu Grundlinie und Endspurt – alle hassten die Konditionsläufe, auch wenn sie wussten, wie wichtig sie waren.
    Wie meistens hatte Jordan sie als Erste absolviert, und sie war stolz darauf, die Disziplin für diese zusätzliche Anstrengung aufgebracht zu haben. Eigentlich hätte die Anstrengung jeden anderen Gedanken vertreiben und außer den schmerzenden Gliedern und dem keuchenden Atem alles andere vergessen lassen müssen, doch als sie sich bückte, um die gegnerische Freiwurflinie zu berühren, erkannte sie, dass sie einen Weg finden musste, mit den anderen beiden Roten Verbindung aufzunehmen, selbst auf die Gefahr hin, dass dies genau den Wünschen des Wolfs entsprach, und sie hatte auch schon eine Vorstellung davon, wie sie es anstellen konnte.
    Sie wusste nicht, ob an der Klischeevorstellung
Gemeinsam sind wir stark
etwas dran war. Sie hegte ihre Zweifel.
    Jordan wartete bis zum späten Abend, bevor sie das You-Tube-Video startete, auf dem sie zu ihrem Wohnheim lief. Die meisten ihrer Hausaufgaben hatte sie ignoriert; stattdessen hatte sie stundenlang auf den Bildschirmhintergrund gestarrt, eine Aufnahme von der Erde aus dem All, bis es schließlich kurz vor Mitternacht war. Sie sagte sich, dass selbst der Böse Wolf irgendwann schlafen musste, und was konnte ihn schon wach halten? Sie und die anderen beiden Roten hatten Anlass zu schlaflosen Nächten. Der Wolf dagegen schlief vermutlich tief und fest.
    In einer Ecke des Bildschirms befand sich der Aufrufzähler. Er war bei 5 stehengeblieben – so oft hatte sie selbst sich das Video angesehen. Sie starrte auf diese Zahl. »Fünf, fünf, fünf«, murmelte sie.
    Sie holte tief Luft. Mit dem Gefühl, unbekanntes Terrain zu betreten, beugte sich Jordan über die Tastatur und fing an, rasant zu tippen. Zuerst unternahm sie eine kurze Suche: Ähnliche Videos, als Suchwort gab sie das Wort
Rote
ein.
    Auf ihrem Bildschirm erschien ein Menü, jeweils mit einem Standbild und einer YouTube-Adresse. Es gab eine Punkband mit Nietenlederjacken und Tattoos, außerdem so etwas wie einen Familienurlaub, einen aufgeblasen wirkenden Avantgardekünstler vor einem leuchtend roten Gemälde von irgendetwas Undefinierbarem. Doch in der Liste befanden sich auch zwei Videos, auf deren Standbild – genau wie bei ihrem – nichts weiter zu sehen war als Wald.
    Sie öffnete beide und sah sie sich an. Das erste begann im Wald und ging dann zu einer Frau in der Ferne über, die einen weißen Arztkittel trug und in der Ecke eines Parkplatzes rauchte. Die Frau schien etwa im Alter ihrer Mutter zu sein. Jordan wartete, bis das Video zu Ende war. Es war kurz, so kurz wie ihres. Dann klickte sie das zweite an und sah, wie dieselbe schnelle Sequenz durch den Wald zu einer jüngeren Frau wechselte, die aus einem Spirituosenladen kam. Diese Frau schien irgendwie geistesabwesend zu sein. Sie beobachtete, wie die Frau in ihr Auto stieg. Jordans Finger schwebten über der Tastatur, um das Video anzuhalten, als auf dem YouTube-Bildschirm eine neue Sequenz erschien. Das Bild war ein wenig verwackelt, doch sie sah zwei Namen auf einem Grabstein.
    Sie griff zu Stift und Papier und schrieb alles auf, was sie erkennen konnte, bevor das Bild verschwand. Dann spielte sie das Video ein zweites und drittes Mal ab, um sicherzugehen, dass sie alle Informationen von dem Grab notiert hatte.
    Zwei Namen. Ein Datum. Das sagte eine Menge.
    Dann sah sie sich noch einmal die Frau in dem weißen Kittel an, um ein Straßenschild oder ein Geschäft auszumachen, irgendetwas, das ihr als Anhaltspunkt dienen konnte. Doch eine weiß bekittelte Frau, die auf einem Parkplatz raucht, konnte jede x-beliebige Person an einem x-beliebigen Ort sein. Sie brauchte die Webadressen nicht zu lesen, um zu wissen, dass sie Rote Eins und Rote Zwei vor sich hatte.
    Das sagte ihr schon das rote Haar.
    Ihr erster Impuls war, dem Bildschirm zuzuflüstern: »Ich bin hier! Ich bin ja hier!«
    Ihre Gedanken rasten.
    Zum ersten Mal war ihr wirklich klar: Ich bin nicht allein.
    Bis jetzt war es nur ein abstrakter Gedanke gewesen. Zwei weitere Frauen?
    Wo? Und wer?
    Aber jetzt konnte sie die anderen beiden sehen und diese, falls sie es versuchten, sie.
    Sie gab sich Mühe, des Ansturms ihrer Gedanken Herr zu werden. Einen Moment hielt sie sich vor Augen, dass, egal wie sehr ihr ganzes Leben durchgewirbelt wurde und wie

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