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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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es ihr entglitt – das Einzige, was im Moment zählte, war das hier; und falls sie sonst nichts ändern konnte, wusste sie zumindest ganz sicher, dass sie in dieser einen Sache diszipliniert und klug vorgehen musste. Es gibt nur eine Schule, eine Familie, eine Welt, sagte sie sich. Der Böse Wolf und du und du und ich. Er wird wissen, was wir gerade tun. Er beobachtet uns, so viel ist sicher.
    Sie minimierte das YouTube-Fenster und öffnete Gmail. Sie brauchte ein paar Minuten, um ein neues Konto mit einer neuen E-Mail-Adresse einzurichten:
Rote
3
@gmail.com
.
    Dann kehrte sie zu YouTube zurück und postete diese Adresse und eine Nachricht unter jedem Video: Ich bin Rote Drei. Wir müssen reden.
    Sie hoffte, dass Rote Eins und Rote Zwei sahen, was sie getan hatte, und ihrem Beispiel folgten. Sie versuchte, den zwei Frauen mentale Botschaften zuzusenden: Der Böse Wolf wird das hier sehen. Gebt euch keinen Moment der Illusion hin, dass er sich nicht selbst immer wieder diese Videos ansieht, sie jede Minute überwacht und mit dem, was wir tun, gerechnet hat.
    Sie versuchte, sich Mut zu machen, fragte sich aber, ob sie gerade eine Tür aufstieß, hinter die sie lieber nicht blicken sollte. Schatten, dachte sie. Eine Welt aus Schatten.
    Dann wartete sie auf eine Antwort. Es dauerte nicht lange.
    Der Zähler auf ihrem Video wechselte auf 6 .
    Sie hielt den Atem an, zählte die Sekunden, die jemand brauchen würde, um das für sie bestimmte Video zu sehen.
    Dann ertönte das helle Klingen, das den Eingang einer neuen E-Mail ankündigte.
     
    Karen Jayson sah sich das Video an.
    Sie schnappte nach Luft, als die verwackelte Sequenz aus dem Wald endete und die Kamera sich auf eine ferne Gestalt richtete. »Aber die ist doch noch ein Kind!«, flüsterte sie, als wäre allein schon das Alter von Rote Drei ein schreiendes Unrecht, auch wenn sie sich ins Gedächtnis rief, dass Rotkäppchen im Märchen noch jünger war.
    Sie mahnte sich zur Vorsicht, da die Sache eine Falle sein konnte, doch noch während sie sich diese Möglichkeit vor Augen hielt, flogen ihre Finger über die Tastatur und tippten eine Nachricht. Für die Antwort benutzte sie ihren Comedycomputer. Sie glaubte zwar nicht wirklich, dass ihr der Wechsel des Computers Sicherheit bot, doch sie bewahrte sich die Illusion, dass der Böse Wolf von ihrem Alter Ego nichts wusste.
    Sie folgte dem Beispiel der anderen und richtete eine neue E-Mail-Adresse ein.
    Rote 1 @gmail.com
    Dann schrieb sie: Wer sind Sie? Und wer ist Rote Zwei?

[home]
    13
    D er Böse Wolf wählte seine Kleidung mit Bedacht. Blaues, am Kragen und an den Manschetten leicht abgewetztes Hemd. Zerknitterte gestreifte Krawatte. Leicht verblichene khakifarbene Hose, abgestoßene braune Schuhe. Er steckte ein funkelnagelneues, schmales Hightech-Aufnahmegerät sowie ein kleines Notizbuch in eine alte Leinen-Schultertasche, dazu eine Handvoll billige Stifte und ein Exemplar seines letzten Buchs. Auf dem Einband in Silber und Schwarz prangte ein Messer mit blutiger, gezackter Schneide, obwohl es auf keiner Seite des Romans eine Figur gab, die ein solches Messer benutzte. Er zögerte einen Moment und drehte sich zum Spiegel, um den Knoten der Krawatte bis an den Hals zu schieben, während er sich erinnerte, wie er seinem damaligen Verleger Vorhaltungen gemacht und auf diese Diskrepanz hingewiesen hatte. »Der verdammte Grafiker hat kein einziges Wort von dem gelesen, was ich geschrieben habe! Der könnte doch die simpelsten Fragen über das Buch nicht beantworten!« Überschäumende Empörung und Beleidigung, die er in wutschnaubendem, kompromisslosem Ton zum Ausdruck brachte und die man schlichtweg ignorierte. Ein paar unaufrichtige Erklärungen, die eine äußerst dürftige Entschuldigung hergaben. Offenbar waren sie nicht bereit, die Kosten für einen neuen Entwurf aufzubringen. Bei der Erinnerung kam ihm noch jetzt die Galle hoch, und er lief rot an, als läge der Affront nicht fünfzehn Jahre zurück sondern ein paar Stunden. Bei seinem neuen Buch, dachte er, würden sie nicht so knausern.
    Der Böse Wolf schnappte nach Luft und wartete, bis sein Puls sich normalisierte.
    Er überprüfte seine Erscheinung im Standspiegel seiner Frau, indem er sich wie ein Teenager vor dem Abschlussball ein paar Mal hin und her wendete. Schließlich rundete er das Ganze mit einer Hornbrille ab, die er sich auf die Nasenspitze setzte, sowie einem alten, beigefarbenen Trenchcoat, der ihm unförmig am Körper hing und bei

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