Der Wolf
ich nicht sagen. Sie wissen schon, Spione. Die haben ein paar richtig coole, topgeheime Tools, um den Bösen auf die Spur zu kommen, so wie im Irak. Aber auf jeden Experten beim Verfassungsschutz kommen ein Dutzend oder eine Million Computerprofis, die sich alle Mühe geben, das System auszuhebeln. Und die Jungs, die nicht vom Staat bezahlt werden, sind meistens um einiges gewiefter.«
Karen wusste nicht, was sie als Nächstes fragen sollte, doch Kyle war ohnehin in Fahrt geraten.
»Es ist so wie im Kino oder Fernsehen«, sagte er. »Es gibt immer diese Szene, in der die Guten oder die Bösen sich irgendwo einhacken und mit einer superwichtigen Information über irgendeinen Typen oder eine Verschwörung aufwarten, irgendetwas Cooles, das da draußen im Cyberspace herumschwirrt, und es erscheint einem völlig logisch, so dass man es ihnen abnimmt?«
»Ja?«, fragte Karen. Nichts von dem, was Kyle ihr erzählte, trug zu ihrer Beruhigung bei. Vielmehr verstärkte es ihr mulmiges Gefühl.
»Na ja, das liegt daran, dass es meistens tatsächlich logisch ist.«
»Danke, Kyle«, sagte Karen. »Kann sein, dass ich Sie noch einmal anrufen muss.«
»Jederzeit zu Diensten, Doktor«, sagte er und legte auf.
Sie brauchte einen Moment, bis ihr klarwurde, dass sie sich ihm nicht vorgestellt hatte. Und ihren Titel hatte sie Kyle auch nicht genannt. Anruferkennung, dachte sie. Einen Moment lang starrte sie auf den schwarzen Hörer in ihrer Hand. Was verriet ihr Telefon ihm noch? Privatnummer, Netzanschluss, Handy, Geschäftsanschluss. Wo blieb ihre Privatsphäre? Es machte ihr Angst.
Schließlich wandte sie sich wieder dem Computerbildschirm zu. Der machte ihr noch mehr Angst.
Sarahs Tränen waren getrocknet.
Irgendwann waren einfach keine mehr da. Sie fühlte sich, als liefe sie blindlings in ein dunkles Zimmer, obwohl sie wusste, dass sich irgendwo im Boden eine Falltür befand, durch die sie in die Unendlichkeit stürzen würde. Egal wie vorsichtig sie sich vorantastete und wie behutsam sie auftrat, klaffte irgendwo vor ihr dieses Loch, und sie würde unweigerlich hineintappen.
Einen Moment lang starrte sie auf ihren Computerbildschirm und sah sich den YouTube-Clip des Bösen Wolfs zum dritten oder vierten Mal an. Vielleicht auch zum fünften Mal. Sie hatte den Überblick verloren.
Mit plötzlicher Entschlossenheit streckte sie die Hand aus und packte den Revolver ihres Mannes, der neben ihr auf dem Tisch lag. Bevor sie richtig begriffen hatte, was sie tat, entsicherte sie die Waffe, stand auf und stürmte durchs Haus in die Eingangsdiele. Ohne zu zögern, riss sie die Haustür auf und trat auf die Veranda, wo sie den Revolver nach links und nach rechts schwenkte, den Finger fest am Abzug, bereit, augenblicklich abzudrücken.
Komm schon! Verdammt! Komm schon, ich warte!
Sie glaubte zu brüllen, doch dann wurde ihr klar, dass ihr die Worte nur durch den Kopf hallten und dass sie die Zähne so fest zusammenbiss, bis ihr die Kinnlade weh tat. Sie wirbelte ein zweites Mal nach rechts und nach links, ein wenig wie ein Kreisel auf einer Tischplatte.
Schließlich senkte Sarah den Revolver und sicherte ihn wieder. Sie atmete langsam aus und schmeckte die frische Luft. Sie fragte sich, ob sie für Sekunden oder sogar eine Minute den Atem angehalten hatte – womöglich hatte sie den ganzen Tag die Luft angehalten, auch wenn das unmöglich war.
Die Waffe fühlte sich plötzlich schwer an, als sie gegen ihre Hüfte schlug.
Eigentlich war die Situation zum Lachen.
Weit und breit niemand zu sehen. Niemand, der von links oder von rechts auf ihr Haus zukam. Keine Autos, die langsam vorbeifuhren. Überhaupt keine Menschenseele, so weit das Auge reichte.
Die konnten alle von Glück sagen, dachte sie. All die Nachbarn, die sich nicht mehr bei ihr blicken ließen. All die Fremden, die theoretisch in diesem Augenblick an ihrem Haus hätten vorbeischlendern können.
Sie alle hatten Glück, dass sie noch am Leben waren. Es hätte keinen Unterschied gemacht, ob einer von ihnen der Böse Wolf war oder nicht.
Sie seufzte und kehrte ins Haus zurück. Sarah kam der Gedanke, dass sie in ihrem Viertel vollkommen vergessen worden war. Niemand wollte sich den Virus der Verzweiflung einfangen, an dem sie litt. Niemand nahm ihre Existenz zur Kenntnis. Nicht mehr.
Ich kann nackt an meinem Fenster stehen. Ich könnte nackt, die Waffe in der Hand, die Straße entlangmarschieren. Ich könnte nackt mitten auf dem Zebrastreifen tanzen und um
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