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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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jedem Schritt flatterte. Durch das Schlafzimmerfenster konnte er sehen, dass es ein feuchter, unwirtlicher Tag war, und er überlegte, ob er einen Schirm mitnehmen sollte, kam aber zu dem Schluss, dass es dem von ihm beabsichtigten Erscheinungsbild noch besser entsprechen würde, wenn sein schütteres Haar von ein paar Regentropfen und einer Brise ein wenig zerzaust wäre.
    Ein Mann, für den Präzision das oberste Gebot war und der dennoch auf einen Beobachter den Eindruck eines etwas chaotischen, harmlos-weltfremden Träumers machte.
    Er merkte sich vor, in dem Buch, an dem er schrieb, einen Abschnitt auf das Thema zu verwenden, unter der Überschrift
Wie man vermeidet, aufzufallen.
    Wenn man etwas Besonderes war, wenn man wirklich einmalig war, so viel wusste er, dann musste man alles daransetzen, es zu verbergen.
    Er konzentrierte sich auf sein Vorhaben, sah auf die Armbanduhr und beschloss, noch einmal kurz in sein Arbeitszimmer zurückzukehren, bevor er das Haus verließ. Er drückte auf den Lichtschalter an der Tür, und die Deckenlampe tauchte sein Schreibzimmer, das sonst fast im Dunkel lag, in helles Licht. Bei der Arbeit genügten ihm normalerweise der Schimmer des Computermonitors und eine schwache Schreibtischlampe. Es gab nur ein einziges Fenster, das er zweifach verriegelte und hinter einer Jalousie verbarg. Er ließ den Blick über den Schreibtisch, über die Bücherregale, die Papierstapel schweifen, bis er an der Schautafel hängenblieb, an der er im Stil der Polizei die Fotos der drei Roten befestigt hatte. Er sah sich jede in Ruhe an, als könnte er mit ihnen kommunizieren, und schwelgte in seinen Phantasien.
    Er versuchte, sich den Ton ihrer Stimmen vorzustellen.
Ob sie Angst haben?
Er stellte sich vor, wie er ihre Haut mit den Fingern berührte.
Gänsehaut.
Er ließ sich für jede Rote Zeit, als könnte er sich etwas einverleiben, das er ihnen gestohlen hatte.
    Schließlich trat er zurück, gierig wie vor einem Schluck Wasser an einem heißen Tag. Seine Stimme war laut und klang, als lese er aus einem Kinderbuch vor. Er sah Rote Eins, Rote Zwei und Rote Drei an.
    Schrill und schluchzend: »Ach, was hast du für große Augen, Großmutter …«
    Feste, tiefe, grollende und gebieterische Stimme: »Ja, damit ich dich besser sehen kann, meine Liebe. Und dich, meine Liebe. Und dich auch, meine Liebe.« Bei jeder Wiederholung blickte er einer der drei Frauen auf den Bildern in die Augen.
    Dann prustete er los, als hätte er ihnen den größten Brüller, den köstlichsten Schenkelklopfer erzählt, machte abrupt kehrt, überprüfte zwei Mal, ob sein Arbeitszimmer ordentlich abgeschlossen war, und verließ das Haus. Der Böse Wolf hatte das Gefühl, als hörte er hinter sich Gelächter. Er lief zügig zu seinem Wagen, und das Lachen verebbte. Er wollte sich zu seiner Verabredung nicht verspäten.
    Vor dem Polizeirevier herrschte Nieselregen. Stark genug, dass ihm die Kälte klamm unter die Haut kroch. Er schlug den Mantelkragen hoch und eilte über den Parkplatz.
    Das Revier war ein moderner Bau, das genaue Gegenteil der stattlichen, viktorianischen Häuser, in denen seit Jahrzehnten die anderen städtischen Behörden untergebracht waren. Seine Stadt – etwas zu klein für eine »City«, doch größer als eine Dorfidylle – war wie viele Gemeinden in Neuengland ein Mischmasch aus Altem und Neuem. Es gab Alleen von ausgesuchter Schönheit, an denen sich Altbauten aneinanderreihten, neben Neubaugebieten, die nach dem Krieg in einem hastig lieblosen Einerlei aus Rechtecken und Quadraten hochgezogen worden waren.
    Zwei große Eichen hielten vor dem Fußweg zum Eingang des Polizeireviers Wache. Sie hatten gerade ihr Laub verloren und sahen wie Zwillingsskelette aus. Dahinter befand sich eine Betontreppe, die zu einer breiten Glastür hinaufführte. Dahinter hatte er seinen Termin.
    Hinter einer kugelsicheren Trennwand aus Glas, die der Böse Wolf ein wenig übertrieben fand, saß ein grauhaariger uniformierter Polizist. Es war höchst unwahrscheinlich, dass ein waffenstrotzender Schurke hier einzudringen versuchte. Das Revier war für eine Stadt dieser Größe typisch. Es verfügte über eine dreiköpfige Kripoabteilung und einen Streifendienst. Es beschäftigte Spezialisten für häusliche Übergriffe und Vergewaltigung sowie ein Verkehrsdezernat, das dank den Bußgeldbescheiden für Geschwindigkeitsübertretungen alljährlich viel Geld in den Stadtsäckel spülte. Es konnte sich sogar eines kleinen

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