Der Wolf
Schnapplaut wieder schloss. Jordan im Schlepptau, ging sie an den Vorhängen der Untersuchungskabinen vorbei und blieb nur einmal kurz stehen, um einen Arzt zu grüßen, den sie zu kennen schien, bevor sie den Bereich durch eine andere Tür verließ und am Ende eines langen, sterilen Korridors in eine Cafeteria trat.
»Wollen Sie was essen?«, fragte sie. »Oder einen Kaffee?«
»Nur Kaffee«, erwiderte Jordan. »Mit Sahne und Zucker.«
Sie setzte sich an einen Ecktisch in sicherer Entfernung von einigen Assistenzärzten und Medizinern in der Facharztausbildung, die an ihren weißen Kitteln oder der grünen OP -Kleidung zu erkennen waren, während Karen zur Theke ging und zwei dampfende Becher Kaffee besorgte.
Jordan nickte kaum merklich und dachte: Das ist wirklich ein gottverdammt guter Ort. Falls der Wolf tatsächlich hier hereinkäme, fiele er ohne OP -Kleidung auf. Als Karen an den Tisch zurückkam, warf sie ihr ein schüchternes Lächeln zu.
Die jüngere und die ältere Frau saßen einander gegenüber, nippten an ihrem Kaffee und sagten eine Weile nichts. Jordan brach das Schweigen als Erste.
»Ich vermute mal«, sagte sie, »Sie sind Ärztin.«
»Internistin.«
Jordan schüttelte den Kopf. »Ich hatte gehofft, Sie wären Seelenklempner.«
»Wieso?«, fragte Karen.
»Weil Sie sich dann vielleicht mit abnormer Psychologie auskennen würden, und das könnte hilfreich sein«, antwortete Jordan.
Karen nickte. Sie war von der klaren Logik, die aus Jordans Bemerkung sprach, verblüfft.
»Ich bin noch Schülerin«, fuhr Jordan fort. »Und in letzter Zeit keine besonders gute.«
Karen nickte. »Aber jetzt sind wir beide plötzlich was anderes. Zumindest sieht es ganz danach aus.«
»Kann man so sagen«, antwortete das junge Mädchen in einem plötzlichen Anflug von Bitterkeit. »Jetzt sind wir Verfolgte. Es ist, als hätte uns jemand Zielscheiben auf den Rücken gemalt. Vielleicht sind wir auch baldige Todesopfer. Oder eine Kombination aus beidem.«
Karen schüttelte den Kopf.
»Das wissen wir nicht. Wir können nicht …« Sie brach mitten im Satz ab. Sie blickte in die grellen Deckenleuchten der Cafeteria und suchte nach etwas Tröstlichem, das sie dem Mädchen erwidern konnte. Dann ließ sie den Gedanken fallen.
Sie holte tief Luft. »Was wissen wir?«, fragte sie.
Jordan ließ sich mit der Antwort Zeit. »Beschissen wenig.«
Das derbe Wort kam ihr locker über die Lippen. Normalerweise benutzte sie gegenüber älteren Personen keine Flüche oder Obszönitäten, wie sie unter ihren Klassenkameraden selbstverständlich waren. Dieser kleine Tabubruch gegenüber Karen hatte etwas Befreiendes.
»Nein«, korrigierte Karen sie leise, »ein paar Dinge wissen wir schon. Zum Beispiel, dass wir drei sind. Und er einer …«
»Das wissen wir nicht«, fiel ihr Jordan augenblicklich ins Wort. Sie hatte ein mulmiges Gefühl im Magen, weil ihr nächster Gedanke – den sie schon auf der Zunge hatte – ihr selbst gerade erst gekommen war. Der einsame Wolf. Woher wissen wir das? »Es sieht so aus, als gäbe es nur diesen einen Kerl, der uns drei jagt. Weil es im Märchen nur den einen bösen Wolf gibt. Aber wir können nicht sicher sein, dass da draußen nicht vielleicht zwei oder drei Kerle sind, wie ein kleiner Club. Vielleicht sind sie so was wie die Kolumbusritter oder so eine Art Football-Club, nur dass sie eben töten. Und vielleicht hängen sie alle im Hobbykeller von einem ab, kippen ein Bier nach dem anderen runter und mampfen Chips, während sie über ihre Pläne feixen, bis sie dann Ernst machen und uns töten.«
Wieder war Karen verblüfft. Der Gedanke war ihr nicht gekommen. Innerlich fröstelte sie, wie unter einer Eisschicht. Die beiden Botschaften vom Wolf hatten sie automatisch zu bestimmten Annahmen verleitet. Sie sah zu Jordan auf. Da musste erst ein Kind daherkommen und ihr klarmachen, dass gar nichts klar war.
Karen musste ihren Kaffee mit beiden Händen festhalten, um nichts zu verschütten.
»Sie haben recht«, sagte sie bedächtig. »Vorerst wissen wir gar nichts.«
Die beiden Frauen sahen sich an, und zwischen ihnen trat Stille ein. Dann schüttelte Jordan den Kopf und lächelte schwach.
»Nein«, antwortete sie. »Ich denke, etwas wissen wir schon. Und wir müssen ein paar Entscheidungen treffen. Sonst irren wir tatsächlich allein durch den Wald, wie er behauptet.«
»Einverstanden«, sagte Karen und dehnte jede Silbe. »Was meinen Sie …«
»Ich glaube, wir brauchen Rote
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