Der Wolf
einen großen Bogen, lief erst einen dunklen Pfad entlang, wechselte dann quer über den Rasen zu einem anderen, kehrte auf den richtigen Weg zurück, eilte im Laufschritt in ein Wohnheim und trat durch einen Hinterausgang wieder in die Nacht hinaus. Als sie endlich davon überzeugt war, dass nicht einmal der Böse Wolf ihrer Fährte folgen konnte, sprintete sie durch das hohe, zweiflügelige, schmiedeeiserne Schultor hinaus. So schnell sie konnte, huschte sie in eine Seitenstraße, die in tiefem Dunkel lag. Auf dem Weg zum Zentrum der kleinen Stadt ging sie in einen gemächlicheren Laufschritt über. Ein wenig kam sie sich so vor wie eine Figur in einem Spionagefilm aus Hollywood. Es war so kalt, dass sie ihren Atem sah.
Antonio’s Pizza
war hell erleuchtet. Grelle Lampen und bunte Neonschilder. Ein halbes Dutzend Schulkameraden drängten sich um die Edelstahltheke vor dem Ofen und warteten auf ein Stück Pizza. Sie sah zu, wie zwei Männer in weißen Jacken und Schürzen die Gäste bedienten. Sie arbeiteten mit geübtem Schwung und schoben zwischendurch die frischen Pizzen auf großen Holzschaufeln in den Ofen, um sie wenig später wieder herauszuholen.
Von ihrem Posten auf der Straße aus konnte sich Jordan die fröhlichen Stimmen und das Klirren der Kasse ausmalen. In der Pizzeria hätte man Mühe, deprimiert oder in sich gekehrt zu sein. Drinnen würden ihr jetzt übermütiges Geschnatter, Lachen und laute Rufe entgegenschlagen, und mit jedem Mal, das ein Stück Pizza aus dem Ofen hervorgeholt wurde, würde ihr der verführerische Duft von gebratenem Fleisch und Gewürzen in die Nase steigen.
Während sie draußen wartete, überkam sie plötzlich der Appetit, und sie hätte sich mit heißer Pizza vollstopfen können, wäre ihr nicht jedes Mal, wenn sie an den Wolf dachte, der Hunger vergangen und einem nagenden Gefühl im Magen gewichen. Angst gegen Essen. Ein unfairer Kampf.
Über dem Bürgersteig rüttelte der eisige Wind an der Markise eines Antiquitätengeschäfts, das schon geschlossen hatte. Jordan wollte gerade auf die Uhr sehen, als es am Rathausturm sieben schlug.
Ihr Blick fiel auf einen Kombi, der vor der Pizzeria an den Bordstein fuhr. Sie duckte sich wieder in den Schatten und wartete.
Pünktlicher geht’s nicht. Sie wusste nicht, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war.
Der Wagen blendete auf und tauchte den Bürgersteig in gelbliches Licht.
Sie sah, wie sich die Silhouette des Fahrers nach vorne beugte und angestrengt in die Pizzeria starrte.
Jordan hatte geschrieben, sie sei dort drinnen.
Stattdessen lauerte sie ein Stück entfernt an einem Beobachtungsposten zwischen zwei Gebäuden, von wo aus sie sehen konnte, ohne gesehen zu werden.
Jordan hielt den Atem an.
Sie sah, wie die Gestalt im Kombi sich aufrichtete und den Sicherheitsgurt löste. Dann öffnete sie die Tür, stieg halb aus und starrte weiter auf die Gruppe Jugendlicher im Restaurant.
Es war dunkel, und das Neonlicht aus den wenigen Läden, die noch geöffnet hatten, legte Regenbogenfarben über den glitzernden Asphalt. Das gelbliche Licht der Straßenlaternen warf fahle Schatten. Es war ein verwirrendes Farbspiel; Grau und Schwarz, Rot, Grün und Weiß vermengten sich und verfälschten die Realität: Ein grüner Wagen erschien blau. Ein weinroter Parka wirkte braun.
Jordan konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob die Person rote Haare hatte. Sie biss sich auf die Lippen und kam zu dem Schluss, dass sie das Risiko eingehen musste.
Sie trat aus dem Schatten und lief zügig hinüber. Sie sah, wie sich die Frau überrascht zu ihr umdrehte. Ihr schien der Schrecken in die Glieder gefahren zu sein, als hielte Jordan ein Messer in der Hand.
»Rote Eins?«, fragte Jordan. Sie hatte sich um einen festen, selbstbewussten Ton bemüht, hörte ihre eigene Stimme jedoch krächzen und knirschen wie eine Eisfläche unter zu hohem Gewicht.
Die Frau nickte. Ihr Gesicht schien sich zu entspannen.
»Hi. Ich bin Rote Drei.«
»Kommen Sie, steigen Sie ein«, antwortete Karen und deutete auf den Beifahrersitz. Sie versuchte, so zu tun, als sei dies die natürlichste Begegnung der Welt.
Jordan zögerte, und Karen sagte: »Ich bin nicht er, versprochen.«
Sie beobachtete, wie die jüngere Frau Vertrauen fasste und zögernd in den Wagen stieg. Karen blieben nur wenige Sekunden, um ihrerseits Jordan zu mustern, besonders die wenigen Strähnen des roten Haars, die unter der engen Strickmütze hervorgerutscht waren. Sie ist so jung,
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