Der Wolf
wie sehr sie ihr Äußeres veränderte. Sie traute dem Wolf einen übermenschlichen Spürsinn zu. Obwohl sie das Haus durch die Gartentür verlassen hatte und – um ihre falsche Schwangerschaft zu verstecken – geduckt wie ein Soldat im Kugelhagel zur Garagenfront gehuscht und ins Auto gestiegen war, vermutete sie, dass er sie dabei beobachtet hatte. Den Mantel hatte sie in einem Müllbeutel mitgenommen, um ihn erst anzuziehen, wenn sie am Sportplatz war. Als sie mit quietschenden Reifen aus der Einfahrt gerast war, hatte sie in ihrer Straße keine verdächtigen Fahrzeuge entdecken können, und auf ihrer weiteren Fahrt hatte sie mit den üblichen Manövern alles darangesetzt, einen etwaigen Verfolger abzuschütteln.
Im Grunde war sie der Überzeugung, dass alle diese Tricks albern und vergeblich waren. Jeder Versuch, diesem Mann auszuweichen, war illusorisch. Der Wolf war überall zugleich.
Während sie auf das Spielfeld starrte und bei jedem Treffer einen Jubelschrei simulierte, hatte Sarah in Wahrheit nur eines vor Augen: die Wolfsspur auf dem Grabstein.
Sie hatte krampfhaft überlegt, was diese Pfoten zu bedeuten hatten, doch das war schwer zu sagen. Es schien, als lauerte der Wolf an der Peripherie ihrer Existenz und wartete nur den richtigen Moment ab.
Den richtigen Moment, dachte sie. Was ist für ihn der richtige Moment?
Bei der Antwort auf diese Frage hoffte sie auf die Hilfe von Rote Eins und Rote Drei.
Sie suchte sich einen Sitzplatz zwischen zwei Paaren und verwickelte ihre Nachbarn in ein Geplänkel über die Mannschaften und das Spiel, damit jeder, der sie beobachtete, davon ausgehen musste, dass sie zusammen gekommen waren. Es war nicht schwer, diesen Eindruck zu erwecken.
Sarah atmete tief ein und wartete, dass der Zeiger der Uhr weiterrückte und das Spiel endete. Sie machte einen Moment die Augen zu und ging die nächsten Schritte durch. Es war kein ausgefeilter Plan, den sie in den Telefonaten mit Rote Eins und Rote Drei ausgeheckt hatte, doch das Gebot der Eile saß ihnen genauso im Nacken wie der Wolf selbst.
Als das Schlusssignal ertönte, brach die Zuschauermenge in ein geteiltes Echo aus Jubelrufen und enttäuschten Kommentaren aus, während sich alle von den Plätzen erhoben und die Glieder streckten.
Sarah sah, wie die beiden Mannschaften in zwei Reihen in Stellung gingen, um sich die Hände zu schütteln. Jede Mannschaft spendete dem Gegner einen höflichen Applaus, doch Sarah achtete nicht mehr darauf, denn sie bahnte sich bereits einen Weg durch die Fans und Eltern, die Gänge und Bankreihen versperrten. Sie hielt den Blick gesenkt, während sie gegen Besucher stieß, die ihre Jacken anzogen und sich über das Spiel unterhielten. Sie hoffte, dass Rote Eins nicht weit von ihr dasselbe tat.
Mit einem unauffälligen Blick über die Schulter schlich sich Sarah eine Treppe hinunter, die zu den Umkleidekabinen führte. Mit einem zweiten Blick vergewisserte sie sich, dass sie alleine war. Sie horchte, doch hinter ihr waren keine Schritte zu hören. Irgendwo in der Ferne ertönte das Gelächter junger Leute – eine harmlose Geräuschkulisse. Rote Drei hatte ihr erklärt, am Ende des Flurs befinde sich eine Tür mit der Aufschrift
Damentoilette.
Dorthin führte sie ihr Weg, und als sie beim Betreten sah, dass sie allein war, stieß sie einen erleichterten Seufzer aus.
Kein Wolf würde mir hierher folgen, stellte sie mit Genugtuung fest.
Natürlich war ihr im selben Moment bewusst, dass dies barer Unsinn war, denn ein Killer, der einen Mord begehen wollte, machte nicht aus Sitte und Anstand vor einer Damentoilette halt. Dennoch fühlte sie sich sicher.
Rechts von ihr befanden sich gegenüber der Wand mit den Waschbecken drei Kabinen. Sie betrat die hinterste. Sarah schloss die Tür ab und setzte sich zum Warten auf den Klodeckel. Eine Viertelstunde, hatte Rote Drei gesagt.
Sie sah auf die Armbanduhr. Die Zeit schien aus dem Takt zu geraten, als hätten sich in jede Minute statt der sechzig eine unberechenbare Zahl an Sekunden eingeschlichen.
Karen kauerte in ihrem Wagen und wartete, bis die ersten Besuchertrauben durch die Türen der Sporthalle ins Freie strömten. Ihr Haar hatte sie streng zurückgesteckt, und sie trug flache Schuhe; sie hatte nichts getan, um sich zu verkleiden.
Vielmehr war sie, kaum dass sie auf dem Parkplatz vor der Turnhalle eintraf, ausgestiegen und hatte die Reihen der Fahrzeuge abgeschritten, um sich zu vergewissern, dass alle leer waren. Auch wenn
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